Rezension

Ein Lesehighlight 2018

Nordwasser
von Ian McGuire

Bewertet mit 5 Sternen

Die moralische Einsamkeit im ewigen Eis

„Der Bär schnaubt, sein heißer Atem streicht über Sumners Gesicht und Lippen. Einen Moment lang spürt Sumner Angst, und im Kielwasser, als die Angst nachlässt und ihre Kraft verliert, einen unerwarteten Anflug von Einsamkeit und Bedürftigkeit.“

 

Inhalt

 

Der Walfang vor Grönland hat schon bessere Zeiten erlebt, dennoch begibt sich die Volunteer auf eine gefährliche Expedition ins ewige Eis, um Wale, Robben und Eisbären zu jagen, deren Rohstoffe sie in der britischen Heimat zu Geld machen können. Die Mannschaft diesmal ist nicht zimperlich, die Männer an Bord alle erfahren und bar jeglicher Illusion. Nur der Arzt Patrick Sumner, passt nicht so recht ins Bild. Unehrenhaft würde er aus der Armee entlassen und heuert nun an, um überhaupt wieder eine Beschäftigung zu haben. Doch in der kargen Eiswelt angekommen, wird ihm schnell klar, dass seine Vorstellungen über mögliche Zwischenfälle und menschliche Entbehrungen, viel zu gering angesetzt waren. Denn nicht nur das grausame, kräftezehrende Töten der Beute, gehört zum rauen Alltag, sondern auch Hungergefühl, die frostige Luft, die unwirtliche Lebensweise und damit einhergehende Erkrankungen. Aber was sich als wesentlich fataler herausstellt, ist die Tatsache, dass sich ein Mörder an Bord des Schiffes befindet. Ein Mann, fähig zu absonderlicher Gewalt und Heimtücke, gewissenlos und brutal. Und Sumner ist nicht nur der Außenseiter, sondern auch der einzige Gerechtigkeitsfanatiker an Bord. Die Frage ist nur, wer ihm dort oben unterstützen könnte, insbesondere, nachdem die Mannschaft in Seenot geraten ist, und nur noch das Sterben oder Überleben die Gedanken der Männer beherrscht …

 

Meinung

 

Dieser Roman aus der Feder des britischen Autors Ian McGuire, wurde 2016 für den Man Booker Prize nominiert und konnte mich von der ersten bis zur letzten Seite nicht nur fesseln und schockieren, sondern ebenso gut unterhalten und mehr und mehr begeistern. Eigentlich bietet er nicht nur einen ausgereiften Plot, mit ausreichend dramatischen Elementen, die allein durch die Kraft der Naturgewalt erzeugt werden, sondern vor allem ein ausgereiftes psychologisches, teilweise sogar philosophisches Betrachten der menschlichen Verhaltensweisen jenseits der Zivilisation. Mit unerschütterlichem Willen, dem Ablegen der Menschlichkeit, dem Vermissen jedweden Mitgefühls sieht sich hier der Leser konfrontiert. Die Männer verhandeln nicht mehr, sie zögern nicht, sie lügen, töten und lassen alles hinter sich. Denn wer sollen schon ihre Rächer sein, wenn sie befürchten, niemals wieder in die Heimat zurückzukehren?

 

Zwei Dinge machen diesen historisch inspirierten Pageturner zu etwas ganz Besonderen. Zum einen ist es die plastisch beschriebene Kulisse im lebensverachtenden Packeis jenseits menschenfreundlicher Bedingungen, zum anderen die klassische Einteilung, die sich gezielt mit dem Protagonisten und dem Antagonisten beschäftigt und ihnen ganz typische Charaktereigenschaften gibt. Nichts weiter als der ewige Kampf zwischen Gut und Böse steht hier im Zentrum der Erzählung und mit ihm die vielschichtigen Möglichkeiten, wer hier welche Untaten zu verantworten hat, oder seiner Schuld möglicherweise für immer entkommen kann.

 

Selten hat mich dieses Thema so gepackt wie in diesem Buch, welches sich stellenweise regelrecht zum Thriller mausert und dann doch wieder in die gedanklichen Spuren einer erfundenen Handlung wechselt. Dennoch empfand ich jeden Gedankengang als schlüssig und nachvollziehbar und während des Lesens hat mich oft die Frage beschäftigt, ob es nicht einfacher wäre, sich einfach hinzulegen und mit der Kälte zu verschmelzen oder ob der Kampf bis zum letzten Atemzug tatsächlich die Starken von den Schwachen trennt.

 

Fazit

 

Ich vergebe begeisterte 5 Lesesterne und habe hier ein echtes Lesehighlight gefunden, welches ich wärmstens weiterempfehlen möchte. Der Roman mag brutal, grausam und sehr maskulin wirken, doch vor allem einprägsam und mit einer überraschend andersartigen Erzählung. Ein spannender Mix aus Fiktion, Historie und Psychologie. Düstere Geheimnisse, menschliche Verfehlungen, und das Glück der Tüchtigen erscheint ebenso diskussionswürdig wie bösartige Menschen, korrupte Zeitgenossen und hungrige Bären. Möge der Stärkere gewinnen!