Rezension

Ein Reporter in der Bredouille

Die Tage von Gezi - Martin Niessen

Die Tage von Gezi
von Martin Niessen

Bewertet mit 2.5 Sternen

Wenn Berichterstatter beginnen, Romane zu schreiben, kann es kritisch werden, denn Reportagen sind keine belletristischen Texte und ein Reporter hat einen anderen Fokus als ein Dichter. Belletristik heisst jedoch „schöne“ Literatur und erfordert letzteren, die knappe Vermittlung von Information braucht ersteren. Und hier liegt der Hase im Pfeffer bei „Den Tagen von Gezi“. Denn Martin Niessen ist ein hervorragender Reporter, der es dichterisch aber einfach nicht drauf hat. Und wenn ihn sein Anliegen dazu treibt, sich in Literatur zu versuchen, um auch Menschen zu gewinnen, die kein Sachbuch in die Hand nähmen, ist er „ein Reporter in der Bredouille!“

Seine drei Protagonisten Marc, ein englischer Journalist, Kathrin, eine deutsche Gastdozentin in Istanbul und Mine, eine junge Türkin aus gutem Haus, verheiratet mit Vedat, einem Polizisten, erleben hautnah „Die Tage von Gezi“, d.h. jene paar Tage vom 28. Mai bis zum 22. Juni 2013 als in Istanbul der Teufel los war und eine Protestbewegung Zehntausende türkischer Bürger erfasst und sich Menschen im ganzen Land mit ihnen solidarisieren, darunter auch rivalisierende Gruppierungen. Und wer hat nicht noch im Gedächtnis, wie der Pianist Davide Martello mitten im Getümmel auf dem Taksim Platz auf seinem fahrbaren Klavier Musik machte? „Überall ist Taksim, überall ist Widerstand“ rufen die Demonstranten.

Wieviel gelebte Demokratie ist möglich in der wunderschönen Stadt am Marmarameer? Das Zitat: „Demokratie ist eine Straßenbahn aus der wir aussteigen, wenn wir unser Ziel erreicht haben“ wird jedenfalls Recep Tacip Erdogan, dem amtierenden türkischen Premier, zugeschrieben, der in den Tagen von Gezi so rein gar nichts von Mitsprache und Dialog hält und mit aller Brutalität und Härte gegen sein Volk vorgeht, es öffentlich als Plünderer und Terroristen beschimpft und bedroht. „TOMA geldi!“, (Die Wasserwerfer kommen!) gellen die Schreie der Menschen durch die Straßen und Tränengaskartuschen vernebeln die Sicht. Schliesslich gibt es über 8000 Verletzte, einige Tote und viele sind blind geworden.

Muss man über diesen Skandal nicht ein Buch schreiben? Das Engagement und die persönliche Betroffenheit des Politologen und Islamwissenschaftlers Martin Niessen, der in Hamburg und Istanbul lebt, spürt man ihm in jeder Zeile ab. Ist es wirklich weltweit unbekannt, dass in der Türkei mehr Journalisten in den Gefängnissen sitzen als in allen anderen Staaten, einschliesslich China?

Doch seine Protagonisten sind nur ärgerlich. Sobald es um soziale Interaktion geht, wird es kitschig und kindisch, sowohl in der minimalistischen Handlung wie auch sprachlich; zahlreiche Stilblüten lassen mich seufzend an Schüleraufsätze denken, mein Rotstift zuckt. Mine, Kathrin und Marc sind natürlich Funktionsträger und sollen Wissen vermitteln. Im Endeffekt haben sie jedoch mehr geschadet als genutzt, denn nur im Informationsteil ist der Autor gut. Schade, dass er sein Anliegen nicht in einer anderern Form vorgebracht hat oder aber mehr Fleisch auf die beklagenswert mageren Rippen seiner Handlungsträger gepackt hat.

Fazit: Viel Wissensvermittlung, ein Maximum an politischem Input, jedoch ist die literarische Umsetzung missglückt. Dennoch vergebe ich für „Die Tage von Gezi“ mit viel Wohlwollen 2,5 Punkte und dies wegen der Brisanz der Thematik, die trotz allem Kritikwürdigen einige Leser verdient und am besten mit einem Zitat des Autors: „Der Geist der Freiheit ist aus der Flasche und lässt sich so einfach nicht wieder hineinprügeln“ (ursprgl. im Imperfekt) charakterisiert ist.