Rezension

Ein sehr sensibles, emotionales Buch über die Liebe und die zwischenmenschlichen Beziehungen.

Und zwischen uns ein Jahr - Natascha Rodrigues

Und zwischen uns ein Jahr
von Natascha Rodrigues

Bewertet mit 5 Sternen

Wer schützt die Liebenden? Das Schicksal ist es nicht.

Es war kein übliches Familientreffen. Es war die Trauerfeier für Paul, Maries Vater, bei dem sie seit ihrem vierzehnten Lebensjahr gewohnt hatte, genauer gesagt, seit dem Zeitpunkt, als ihre geschiedene Mutter, bei der sie geblieben war, ein neues Leben mit Leo beginnen wollte, nach München zog und Marie beim Vater abgab. Aber das lag lange zurück. Marie war verheiratet, war glücklich mit ihrem Ehemann Johannes und den beiden Kindern Viva und Anton. Marie war mit den Kindern nach Paris gekommen, um Abschied von Paul zu nehmen, ebenso wie seine Freunde, oder wie Eva, Maries Mutter mit Leo und dessen Sohn Serge aus erster Ehe. In wenigen Tagen würde sie wieder zuhause sein, Johannes würde sie am Flughafen in die Arme schließen, froh, nicht mehr ohne sie zu sein und glücklich den Reiseerlebnissen der Kinder lauschend. Die letzten Tage würden der Vergangenheit angehören, und ihr behütetes Dasein würde sie wieder aufnehmen.

Aber die Begegnung mit Serge sollte alles verändern. Unfassbar für sie selbst, wurde Marie von einer ungeheuren Faszination ergriffen, eine unerklärliche Sehnsucht ergriff Besitz von ihr und stellte alles bis dahin sicher Geglaubte in Frage. Sie wurde zur Zerrissenen und Suchenden, ihr Lebensgefüge drohte zu zerbrechen, alles schien nur noch Gesetzen zu folgen, die von dieser Begegnung diktiert wurden, und ihr Kampf um Erkenntnis war verzweifelt und schuldbewusst, ein Ringen zwischen schmerzvoller Entsagung und bedenkenlosem Besitzergreifen.

Natascha Rodrigues hat einen wunderbaren, sensiblen Roman geschrieben, der es versteht, den Leser mehr und mehr in seinen Bann zu ziehen. Was im ersten Moment wie ein Flirt auf leichten Füßen daherkommt, entwickelt im Verlauf der Geschichte eine unvergleichliche Eigendynamik, der man sich nicht entziehen kann. Fast atemlos verfolgt man das Geschehen, ist man Zeuge des Bemühens um Klarheit und Ordnung der Lebenseinstellungen, in einer Situation, die alles in Frage stellt. Feinfühlig beschreibt die Autorin die Positionen der Protagonisten und überlässt es dem Leser, eigene Wertigkeiten und Empathien einzubringen. So erfährt er eine starke Auseinandersetzung mit dem Roman, die auch dann nicht zu Ende ist, wenn er die letzte Seite umgeblättert hat.

Ein nachhaltiges, intensives Buch, menschlich, gefühlvoll und bewegend, das auf einer Bühne spielt, auf der man ein Stück eigenes Leben wiederfinden könnte - erschreckend fremd oder nah und vertraut, aber auf alle Fälle besonders.

Absolut lesenswerte, anspruchsvolle Lektüre.