Rezension

Eine absolute Leseempfehlung!

Bürgerin aller Zeiten - Heike Wolf

Bürgerin aller Zeiten
von Heike Wolf

Bewertet mit 5 Sternen

Ich und die Schönaus...

Ich habe lange über den ersten Satz dieser Rezension nachgedacht: wie kann ich ein Buch beschreiben, dass mich förmlich zwischen seine Seiten aufgesogen hat, mich derart in seinen Bann gezogen hat, dass ich fast das Gefühl hatte, ich würde bei den Schönaus auf dem Sofa sitzen?

Nein, leider ist mir kein passender Satz für dieses lesenswerte Buch eingefallen...

Heike Wolf erzählt mit Anteilen ihrer eigenen Familiengeschichte das fiktive Leben der Leipziger Familie Schönau, beginnend 1913, als die 4-jährige Lotte stolz dem Kaiser zuwinkt. Es sind glückliche Zeiten für Luise und Wilhelm, Lottes Eltern, ihre 2-jährigen Schwester Dorchen und Heinrich, der gerade in diesen Tagen geboren wird. Wilhelm arbeitet gemeinsam mit seinem jüdischen Partner erfolgreich in einer Rechtsanwaltskanzlei. Außerdem gehört Mathilde, das Dienstmädchen, zur Familie: sie ist erfrischend, selten um eine Antwort verlegen und steht Familie Schönau auch in dunklen Zeiten mit Rat und Tat zur Seite.

Die Autorin beschreibt das Familienleben so lebendig, dass das Kopfkino immer surrte (wie gesagt: ich bin kurzfristig bei den Schönaus eingezogen...). Aber es ist ja nicht nur die Geschichte der Schönaus – wir nehmen auch teil an den Gedanken der Eltern beim Kriegsausbruch 1914, sorgen uns um Wilhelm während des Frankreich-Feldzuges, hungern und frieren mit Luise und den Kindern im Winter 1917: „Luise betrachtete ihre älteste Tochter, die in den letzten Wochen so sehr an Gewicht verloren hatte, dass ihre Augen in dem kleinen Gesicht riesig aussahen; die Hunger litt und fror, und sich doch noch mit ihrer wenigen Kraft für den Hund einsetzte. Fast kamen ihr die Tränen.“ (S.102) „Dorchen weinte fast, als sie vor ihrem Teller mit der Steckrübensuppe saß. Die Erbsen und die paar Krümel Ei, die es für jeden gab, hatten alle gierig verzehrt, aber die geringe Menge war kaum der Rede wert.“ (S. 105). Gerade diese Passage hat mich sehr angerührt und betroffen gemacht: hatte ich doch bisher gar nicht richtig realisiert, wie schlecht die Versorgungslage der Menschen in diesem „Hungerwinter 1917“ gewesen ist... Wie schrecklich muss es für eine Mutter sein, ihre kleinen Kinder hungern und frieren zu sehen – und nichts dagegen machen zu können?

Heike Wolf hat es perfekt verstanden, Familien-, deutsche und Weltgeschichte geschickt miteinander zu verknüpfen, so dass viele Ereignisse bis 1933 (Ende des 1.Bandes) für mich aus den „nackten“ Zahlen und Fakten der Geschichtsbücher ein menschliches Antlitz (oder – WIR kennen ja den Geschichtsverlauf: eine Fratze!) erhielten. Zumindest abschnittsweise wäre dieses Buch eine gute Ergänzung für den Geschichtsunterricht!

Zwischendurch lenkt die Autorin unsere Aufmerksamkeit auf das Jahr 1989, am 9.November wird Charlotte 80 Jahre alt und die Geburtstagsvorbereitungen laufen langsam an...

Der Schreibstil ist aus- und eindrucksvoll, frisch und nuanciert, der Spannungsbogen stets hoch, so dass ich dieses Buch kaum aus der Hand legen konnte.

Ich finde den Titel auch ausgesprochen gut gewählt: Charlotte hat in ihrem Leben (stellvertretend für alle Menschen dieser Jahrgänge) die verschiedensten Staatsformen und zwei Weltkriege erlebt, sie ist tatsächlich eine „Bürgerin aller Zeiten“. Das Cover empfinde ich ebenfalls als sehr passend, vermutlich eines der Familienbilder der Autorin.

Muss ich bei dieser begeisterten Rezension noch extra eine Leseempfehlung aussprechen? Jeder, der an gut recherchierten historischen Familiengeschichten interessiert ist, sollte die Schönaus von der Kaiserzeit bis zur Machtübernahme durch die Nationalsozialisten begleiten (Band 1)

Spätestens Ende der nächsten Woche werde ich vermutlich wieder bei den Schönaus einziehen, denn zu meinem großen  Glück gibt es noch einen 2. Band dieser hervorragenden Familiengeschichte – ich freue mich schon sehr darauf!