Rezension

Eine der lesenswertesten Geschichten dieses Jahres

Simone -

Simone
von Anja Reich

Bewertet mit 5 Sternen

Anja hatte keine Zeit für Simone. Sie feierten gerade den Geburtstag ihres kleinen Jungen und den ihres Vaters. In dem Moment, als sie sich zum Essen setzten, rief Simone an. Letztes Jahr war sie noch mit einem Kuchen vorbeigekommen, diesmal hatte sie es wohl vergessen. Wenige Tage später schrieb Anja an einem Artikel, der sie beanspruchte, den sie zeitnah abgeben musste. Auch dieses Mal vertröstete sie Simone, auf eine Woche später. 

Zehn Jahre nach Simones Freitod, möchte Anja Antworten auf die vielen Fragen, die sie sich gestellt hat, aber da ist es noch zu früh. Es vergehen weitere fünfzehn Jahre und dann spricht Anja mit fast allen Menschen, die Simone gekannt hatten, liest ihre Tagebücher und nimmt alles in den Fokus, was von Simones Gedanken und ihrem Wesen geblieben ist. 

Simone war so ein interessanter Mensch, sprach viele Sprachen fließend, tanzte Salsa, entwickelte eine tiefe Liebe für Lateinamerika und eine Leidenschaft für südländische Männer. Sie jobbte, studierte und war frei. Sie war so ganz anders als Anja, die vernünftiger war, größtmögliche Sicherheit wünschte und eine traditionelle Familie, Ehemann und zwei Kinder. Simones Gefühle waren ein Auf und Ab, Anja ließ sich nicht so leicht bewegen.

Simones Eltern gestanden Fehler ein bei Anjas Recherche. Sie hätten sie damals nicht in dieses Heim geben sollen, als Simone acht Wochen alt war. Montags bis Freitags war sie dort und wenn die Eltern keine Zeit fanden auch länger. Simones Mutter Dana sagt im Nachinein: “Das war unser erstes Verbrechen!” Aber was hätten sie machen sollen, waren beide berufstätig. Die Mutter ist Ungarin und floh zu ihrem Mann in den Osten Deutschlands, wo sie das Recht auf Arbeit und die Pflicht zur Arbeit hatten.

Fazit: Für mich ist diese Geschichte eine der lesenswertesten dieses Jahres. Ich mag den knackigen, zügigen Schreibstil der Autorin, der Bindewörter meidet und damit das Tempo erhöht. Die Geschichte an sich, ist so tragisch, wie überzeugend. Ich lerne Simone als erstaunlich begabte junge Frau kennen und entdecke nach und nach alle ihre Schattenseiten und sich wiederholenden Verhaltensmuster. Auf den ersten Blick scheint Simone alles zu haben, was wir beneiden, weil es ein glückliches Leben verspricht. Anja Reich zeichnet das Bild einer zutiefst gestörten, einsamen Frau, die sich in diverse Abhängigkeiten begeben muss, um ihre Ängste zum Schweigen zu bringen. Ein wunderbares Psychogram, das ich bedingungslos weiterempfehle.