Rezension

Einfühlsam und respektvoll werden hier die schwierigen Themen Alzheimer, Sterbehilfe und Würde behandelt!

Henning flieht vor dem Vergessen - Hilda Röder

Henning flieht vor dem Vergessen
von Hilda Röder

Bewertet mit 4.5 Sternen

Zum Inhalt:

Amsterdam 2009: Der lebensfrohe 68jährige Henning Landes erhält von seinem Arzt eine niederschmetternde Diagnose. Er leidet an Alzheimer, wann und wie stark die Krankheit vollends ausbrechen wird, ist ungewiss. Doch Henning, der an seinem Opa bereits die verheerenden Folgen dieser tückischen Krankheit miterleben musste, fasst einen Entschluss: Lieber möchte er in Würde sterben, als sich selbst zu verlieren und seiner Familie zur Last zu fallen.

Zusammen mit seinem Hausarzt beantragt Henning bei der Euthanasie-Kontroll-Kommission das Recht auf eine ärztlich begleitete Selbsttötung. Während er bang auf die Entscheidung wartet, verabschiedet er sich langsam von geliebten Menschen, Orten, Dingen und erinnert sich an sein bisheriges Leben. Und immer wieder kommen ihm Zweifel, ob er den Schritt zum Freitod wirklich wagen soll. Denn darf seine Würde ihm wichtiger sein als die Menschen, die ihn lieben und die ihn nicht gehen lassen wollen?

Meine Meinung:

Dieser Roman beruht auf Tatsachen, die die Autorin selbst so miterleben durfte. Hennings Geschichte hat es also in dieser bzw. einer ähnlichen Form gegeben, und sogar kleine, nur kurz erwähnte Nebencharaktere haben reale Vorbilder. Hilda Röder weiß, wovon sie schreibt, denn sie gründete 1990 einen ambulanten Hospizdienst, betreut Bewohner in einem Pflegeheim und erlebte als gebürtige Niederländerin bereits mehrmals in ihrer eigenen Familie ärztlich assistierte Sterbehilfe.

Hennings Geschichte ereignet sich in den Niederlanden, das erste Land der Welt, das 2002 ein Sterbehilfegesetz verabschiedete. Dies erklärt natürlich, wieso Henning nach Erhalt der Diagnose Sterbehilfe beantragen kann; für uns in Deutschland ist dies bislang noch undenkbar. Das Thema „Sterbehilfe“ kam mir natürlich schon das ein oder andere Mal in den Sinn, doch da es hierzulande verboten ist, machte ich mir nie intensivere Gedanken darüber, auch weil ich bislang glücklicherweise noch nicht davon betroffen war.

In diesem Buch werden die großen, wichtigen Themen Alzheimer/Demenz, Sterbehilfe und Würde behandelt. Indem man als Leser in die Gedankenwelt eines Betroffenen eintaucht, befasst man sich zwangsläufig selbst intensiv damit. Wie würde ich an Hennings Stelle handeln? Oder auch an Stelle seiner Familienmitglieder? Es wird viel diskutiert – Henning führt mit sich selbst Streitgespräche, aber muss sich auch seiner Familie stellen, in der nicht alle seine Entscheidung zum begleiteten Freitod akzeptieren wollen. Genau wie Hennings Familie empfand ich es als ein großes Dilemma, dass Henning beim Ausführen des Suizids noch im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte sein muss. Dies bedeutet, dass Henning aus dem Leben scheiden muss, so lange die Krankheit noch nicht richtig ausgebrochen ist. Das wiederum bedeutet, dass er vielleicht noch etliche schöne Jahre vor sich hätte, die er quasi wegwerfen möchte aus Angst davor, seine Würde zu verlieren.

Es gab viele Momente, in denen ich einen Kloß im Hals hatte, und ja, es sind auch ein paar Tränchen gekullert. Dennoch fand ich das Buch nicht in 1. Linie traurig oder beklemmend, und für mich stand auch nicht im Vordergrund, wie sich Henning nun letztendlich entscheiden wird. So habe ich auch Hennings Erzählungen aus seiner Vergangenheit genossen und fand es sehr interessant, wie es z. B. in Amsterdam zur Nachkriegszeit aussah. Viele seiner Erinnerungen sind traurig, etliche aber auch fröhlich und voller Lebensfreude. Für mein Empfinden dominieren in diesem Buch nicht die negativen Gefühle wie Angst oder Trauer, sondern die positiven: Henning ist ein Mensch, der das Leben liebt, und das kommt sehr deutlich rüber. Beeindruckend fand ich sein Verhältnis zu seiner Familie. Der Umgang zwischen Henning und seinen Angehörigen ist sehr liebevoll, sie sind immer füreinander da, auch in schlimmen Zeiten. So kümmerte sich Henning selbst aufopferungsvoll um seinen Opa, seine Mutter, seine Schwester und seine Tante bis zu deren Tod – mitunter ein Grund, weshalb er Angst davor hat, selbst zum Pflegefall zu werden.

Ein kleiner Wermutstropfen waren für mich persönlich die nicht wenigen Grammatik- und Tippfehler, über die ich beim Lesen gestolpert bin und die ich leider einfach nicht ausblenden konnte. Ich würde mir hier wünschen, dass für eine Neuauflage nochmal ein Lektor drüberschaut! An manchen Stellen, v. a. bei Hennings Selbstgesprächen, fand ich außerdem die Sprache etwas holprig bzw. unnatürlich.

Positiv hervorheben möchte ich im Gegensatz dazu das Layout. Das hochwertige Hardcover-Buch hat ein schönes Format und wirkte auf mich optisch auf den 1. Blick eher wie ein Fachbuch als ein Roman. Die große Schrift ist sehr angenehm zu lesen und für Menschen mit Sehschwäche sicherlich eine Erleichterung. Im Anhang findet sich noch eine Liste mit Alzheimer-Gesellschaften und Anlaufstellen.

Hilda Röder ist es gelungen, schwierige Themen sehr einfühlsam und respektvoll zu behandeln. Sie drängt niemandem eine endgültige Meinung zum Thema „Sterbehilfe“ auf, sondern lässt den Leser sich selbst seinen Standpunkt wählen und seine eigene Definition von „Würde“ finden. „Henning flieht vor dem Vergessen“ ist definitiv ein emotionales Buch, das man nach der letzten Seite nicht weglegt, sondern dessen Inhalt den Leser noch lange danach begleitet und im Idealfall dazu führt, dass man sich – falls nicht schon vorher geschehen – seine eigenen Gedanken zu diesen Themen macht.