Rezension

Er sah nichts

Die Geschichte der Einsamkeit - John Boyne

Die Geschichte der Einsamkeit
von John Boyne

Bewertet mit 4.5 Sternen

Odran Yates kommt 1972 an das renommierte Dubliner »Clonliffe Seminary«, um Priester zu werden. Voller Hingabe widmet er sich seinen Studien. Er kann es kaum erwarten, endlich Gutes zu tun. Vierzig Jahre später ist sein Vertrauen in die katholische Kirche jedoch zutiefst erschüttert. Waren Priester jahrzehntelang unanfechtbare Respektspersonen und wurden von der irischen Bevölkerung verehrt, schlägt ihnen jetzt nur noch Verachtung entgegen. Odran muss dabei zusehen, wie alte Freunde zu recht vor Gericht stehen, wie einstige Würdenträger verurteilt werden und ins Gefängnis kommen. Odran ist erschüttert und zieht sich zurück – aus Angst vor den missbilligenden Blicken seiner Umwelt. Erst als bei einem Familientreffen alte Wunden aufgerissen werden, sieht er sich gezwungen, sich den Ereignissen zu stellen und seine Komplizenschaft zu erkennen. (von der Piper-Verlagsseite kopiert)

Irland war neben Polen das römisch-katholischste Land Europas. Die Priester besaßen göttlichen Status und waren der Welt entrückt. In anderen Ländern suchte man nach dem Vaticanum II neue Wege zur Priesterausbildung, die die Kandidaten aus der Einkasernierung in Seminare nach draußen entließen, um wie andere Studenten auch zu leben. In Irland glich die Priesterausbildung einem Gefängnisaufenthalt (auch wenn der Protagonist dies so nicht empfindet).

Als viele ihrer Kollegen in anderen Ländern zu dieser Zeit froh waren, ihre Soutanen einmotten und Zivil tragen zu können, kleidete man sich in Irland weiter im Klerusgewand. Umso schrecklicher und tiefer der Fall.

Odran ist ein harmoniesüchtiger Mann. Er macht den sehnlichen Wunsch seiner Mutter, ihn als Priester zu sehen, zu seinem eigenen. In seinem gesamten Ausbildungs- und Berufsweg scheint ihm nur ein Fehler zu unterlaufen – als er vom geraden Weg abweicht. Ansonsten gehorcht er seinem Bischof, erledigt die aufgetragenen Ämter pflichtbewusst und unterwirft sich den Institutionen, dem Bistum und der Schule, an der er unterrichtet. Auch als der Bischof ihn von seiner geliebten Schule weg beordert, lehnt er sich nicht auf.

Er fühlt sich wohl und geachtet, er genießt hier und da, wenn auch nicht immer, seinen Status und seine Sonderrechte und glaubt, für andere Menschen da zu sein.

Er begeht kein Verbrechen, er gehört nicht zu den Priestern, die sich an Kindern vergreifen oder denen, die nach Reichtümern, Ansehen oder Posten gieren. Doch von einer Schuld kann er sich nicht freisprechen: Er ist feige, und er schaut lieber weg statt aktiv zu werden und gegen das anzugehen, was offensichtlich ist.

Außerdem verschließt er gern die Augen vor dem, was um ihn herum vorgeht und ihn belastet, nicht nur im kirchlichen Bereich, sondern auch in der Familie, z.B. vor der Demenzerkrankung seiner Schwester oder der Homosexualität seines Neffen.

Auch eine gewisse Blindheit oder Blauäugigkeit muss Odran sich nachsagen lassen. Ziemlich dumm, in einer Soutane durch Dublin zu gehen, während ein Prozess gegen einen Mitbruder geführt wird und die Volksseele kocht.

Mit dieser Figur hat Boyne einen realen Prototyp geschaffen, denn viele pädophile Priester  konnten nur deshalb so lange ihr Unwesen treiben, weil sie von denen geschützt wurden, die wegschauten. Die Frage der persönlichen Schuld bleibt und kann nur selbst beantwortet werden.

Auch mit diesem Buch beweist Boyne wieder, dass er zu den großen zeitgenössischen Autoren gehört. Für eine solche Handlung die Ich-Form zu wählen, hätte schief gehen können, aber Boyne schafft es, aus dem Mund eines menschlichen und dennoch menschlich gescheiterten Mannes ohne Larmoyanz und Gefühlsduselei eine tragische Geschichte zu erzählen, die überdies spannend zu lesen ist.

Dass Boyne das kirchliche Milieu recherchiert hat, beweisen Einzelheiten, die er erwähnt. Dass zum Beispiel Papst Paul VI. eine Nachteule war oder dass Johannes Paul II. nach außen gütig wirkte, sich nach innen aber despotisch gebärdete.

Ein uneingeschränkt empfehlenswertes Buch.

 

Lediglich einen Übersetzungsfehler möchte ich anmerken: Die irische Anredeform für einen Priester ist „Father“; dieses Wort verwendet das englische Original. Dies wurde mit „Pater“ übersetzt, also vom deutschen „Vater“ ins Lateinische.

In Deutschland werden jedoch nur Ordenspriester mit „Pater“ angesprochen, und zu denen gehört Odran Yates definitiv nicht. Warum hat man nicht „Father“ stehen lassen?