Rezension

Erschütternd, aber auch lesenswert

Das Mädchen - Edna O'Brien

Das Mädchen
von Edna O'Brien

Bewertet mit 4 Sternen

„Das Mädchen“ ist eine Kunstfigur, aber dennoch auf seine ganz spezielle Art authentisch. Denn Edna O’Brien vereint in dem Mädchen, dem sie den Namen Maryam gibt, die Geschichten der 2014 in Nigeria durch die islamistische Terrororganisation Boko Haram entführten mehr als 200 Schülerinnen. Es wurde berichtet, dass diese Opfer von Zwangsverheiratungen und sexuellen Übergriffen geworden seien. Zwar gab es zu verschiedenen Zeitpunkten Freilassungen und einigen Schülerinnen gelang sogar die Flucht, aber aktuell werden immer noch mehr als 100 der Mädchen vermisst, beziehungsweise von Boko Haram festgehalten.

Um die erschütternde Geschichte dieses Buches erzählen zu können, reiste die 1930 geborene Autorin nach Nigeria und verbrachte viel Zeit mit Mädchen in Aufnahmelagern, in den Dörfern, in Klöstern und Schulen. So erhielt sie Einblicke in die größtenteils verschwiegene Geschichte der entführten Mädchen. Und genau das merkt man diesem Buch auch an. Die Autorin vereint in dem Mädchen Maryam all diese Geschichten und man bekommt beim Lesen eine leise Ahnung von dem Grauen, das diese Mädchen durchgemacht haben. Maryam arbeitet schwer, hungert und wird immer wieder vergewaltigt. Schließlich wird sie einem Kämpfer zur Frau gegeben, von dem sie schwanger wird. Doch gemeinsam mit einer Freundin gelingt ihr die Flucht. Aber damit endet die Not der aus der Gefangenschaft zurückkehrenden Mädchen noch lange nicht, denn sie werden von der traditionsbehafteten eigenen Sippe abgelehnt und manchmal sogar von der Gemeinschaft verstoßen.

„Es hatte sich herumgesprochen, dass wir die Frau eines Milizionärs und ihr Kind verstecken. Alle dort unten haben furchtbare Angst. Sie wissen, was passieren wird. Man wird ihre Waren beschlagnahmen, ihre Verkaufsstände niederbrennen und sie selbst abschlachten. Und dann werden die Dschihadis hierher zu uns kommen, denn sie wissen, wo sie uns finden können, sie kennen jeden Quadratzentimeter von diesem Wald. Sie werden alles zerstören. Sie werden uns unsere Herde wegnehmen. Es wird nichts von uns übrig bleiben.“ (S. 90)

Eindringlich schildert Edna O’Brian die Geschehnisse mit harten Fakten, eher distanziert und dabei doch näher, als einem lieb sein kann. So kommt man Maryam beim lesen nicht wirklich nah, fühlt aber dennoch das unbeschreibliche Grauen, die Abstumpfung der Gefühlswelt und die Hilflosigkeit mit. Dieser Abstand, ein gebührender nicht verletzender Abstand, sorgt dafür dass die Geschehnisse und Taten in ihrer Grausamkeit begriffen werden können, man das Gelesene aber noch aushalten kann. Auf der anderen Seite schafft es die Autorin jedoch auch durch die Beschreibung eines einzelnen Bildes eine ganze Geschichte im Kopf des Lesers zu erzeugen, so schmerzhaft und grausam, dass man froh ist, dass man es nicht ausformuliert lesen muss.

„Das Mädchen“ ist ein verstörendes Buch, das von Gewalt, Terror, Angst und Traditionen handelt und nebenbei Einblicke in das nigerianische Frauenbild gibt. Erschütternd, aber auch lesenswert.

„Er dreht sich zu den anderen um und sagt, es sei wahrscheinlicher, dass ich eins von den Schulmädchen bin. Das sehe man in den Augen: das Trauma tief in den Augenhöhlen und der gehetzte Blick. Er sehe das nicht zum ersten Mal.“ (S. 93)