Rezension

Nigeria. Vergessenes Land. Vergessene Frauen.

Das Mädchen - Edna O'Brien

Das Mädchen
von Edna O'Brien

Bewertet mit 3 Sternen

Ich finde es immer blöd, (m.a.W. unverzeihlich), wenn der Roman selbst nicht ausreichende Informationen über seinen Hintergrund liefert.

Properly speaking, ich habe noch nie etwas von Edna O’Brien gelesen. Ja, schlimmer noch, ihre Existenz war mir unbekannt. Dabei scheint sie eine Art Berühmtheit zu sein unter den Schriftstellern Irlands. Bahnbrechend sogar. Ihre Trilogie „Country Girls“ erlebte (einst - 1960) buchstäblich eine Bücherverbrennung. Zu viel Sex, vermute ich. 

Nun, entsprechend ihrem Ruf nimmt Edna O’Brien kein Blatt vor den Mund, wenn es um das Schicksal der nigerianischen Schülerinnen geht, die 2014 von Boko Haram verschleppt, ständig vergewaltigt, misshandelt, verkauft und gefangengehalten wurden und zum Großteil noch werden. Edna O’Brien hat längere Zeit vor Ort recherchiert und dem unermesslichen Leid dieser Frauen eine weitere Stimme gegeben. 

„Das Mädchen“ ist eine Kunstfigur. Und trotzdem authentisch. Maryam überlebt und es gelingt ihr die Flucht. Doch nach wochenlangem Fastverhungern und Angst endlich zuhause angekommen, wird sie nicht nur nicht mit offenen Armen aufgenommen, sondern man nimmt ihr auch noch das Kind weg, das sie geboren und gerettet hat. 

Zur näheren Erläuterung des Romanhintergrunds zitiere ich eine weitere Quelle: 

 Die Journalistin Heike Hupertz schreibt am 20.11.2018 in der FAZ über die „Chibiok-Mädchen“ und die Zustände in Nigeria: 

 „Dass nach wie vor im Norden Nigerias jedes Jahr Hunderte Mädchen verschleppt, mit „Kriegern“ zwangsverheiratet und immer wieder zu Selbstmordattentaten gezwungen werden, steht auf einem anderen, weniger prominenten Blatt. Es wird vermutet, dass sich nach wie vor Tausende Frauen in der Gewalt von Boko Haram (wörtliche Übersetzung: „Westliche Bildung ist eine Sünde“) befinden. Die Unterjochung und Vergewaltigung von Mädchen ist, genau wie die Abrichtung von Kindern als Terrorsoldaten, Teil der Bürgerkriegsstrategie der Islamisten. Seit 2009 forderte der Krieg mehr als 28 000 Tote. Drei Millionen Menschen sind auf der Flucht.“

Die Kritik: 

Es ist richtig, diesen Menschen eine Stimme zu geben. Es ist richtig, die Gräueltaten islamischer Terrororganisationen an den Tag zu bringen und zu zeigen, wie hauptsächlich Frauen als Kriegsmaterial und Waffe missbraucht werden. Und doch ist bloßes Zeigen zu wenig und manchmal auch zu viel. 

Das Buch ist durchaus gut lesbar geschrieben. Man kann das Geschehen (gerade noch) aushalten. Dennoch ist es zum Teil voyeuristisch. Und man darf ebenso bezweifeln, dass diejenigen, die es lesen müssten, es je zur Hand nehmen. 

 Was mir am meisten fehlt im Roman selbst und woran eine Icherzählung zwangsläufig fast immer krankt, ist der Mangel an klaren Informationen und klaren Benennungen. Reine Romane können einfach nicht alles. Und ich stelle in Frage, dass dieser Roman irgendetwas bewirken kann. Im vorliegenden Falle hätte mir deshalb eine Mischung zwischen Dokumentation und Roman weitaus mehr zugesagt. Die Aktion „Bringbackourgirls“, meines Wissens u.a. von Michelle Obama initiiert, hat Druck auf die nigerianische Regierung ausgeübt und einige Hundert Frauen wurden frei. Was heißt hier „frei“? Dieses Buch aber wird nichts bewirken.

 Das ist das zweite, was mir sehr fehlt. Ausser der bloßen Schilderung des Grauens gibt es nichts, keine Reflexionen, keine Hintergründe, keine Ausblicke. Im Nachwort gibt es einen entsprechenden Beitrag. Davon hätte ich jedoch auch gerne etwas im Roman gelesen. 

 Fazit: Bewegend erzähltes Grauen weiblicher Entführungsopfer in Nigeria als Icherzählung. Jedoch leistet die gewählte Romanform der Icherzählung zu wenig: Keine Aussenbetrachtung. Keine Stellungnahme. Keinen Kommentar. Keine politische Einbettung. Keine Bewertung. Keine Hintergründe. Abgesehen davon, dass man den Roman per se natürlich als  Stellungnahme verstehen kann. Dennoch: zu wenig Einmischung für meinen Geschmack.

 Kategorie: Belletristik
Verlag: Hoffmann und Campe, 2020 

Kommentare

gst kommentierte am 06. März 2020 um 11:33

Das ist mal wieder eine richtige "Wanda-Rezension". Danke für Deine kritische Einschätzung!

Emswashed kommentierte am 06. März 2020 um 16:31

"Keine Außenbetrachtung" ist dann vielleicht auch als unausgesprochene Kritik an der fehlenden Hilfestellung für diese Frauen zu sehen. Sie haben nicht die Lobby, abgesehen von Michelle Obamas guten Ansätzen. Subtext, meine Liebe, Subtext!

Abgesehen davon hast Du natürlich recht. In "Weit gegangen" zeigt Eggers, dass es mit ähnlichen Themen, auch anders gehen kann.