Rezension

Erwachsenwerden im Schatten des Krieges

Die Molche -

Die Molche
von Volker Widmann

Bewertet mit 3 Sternen

Ein poetisch geschriebener Roman mit Licht und Schatten. Freunde des Coming-of-Age werden ihn feiern.

Der 11-jährige Max lebt Anfang der 1960er Jahre mit seiner Familie in einem bayrischen Dorf. Als Zugezogene haben er und sein verträumter Bruder bei der Dorfjugend einen schweren Stand und werden regelmäßig Opfer von Attacken des Jugendlichen Tschernik mit seiner Gang. Eines Tages eskaliert die Gewalt: Max sensibler Bruder wird gejagt, eingekesselt und mit Steinen erschlagen. Zahlreiche Kinder und Jugendliche werden Zeuge dieser grausamen Tat. Es schaudert mich, dass nicht ein Beobachter darüber mit seinen Eltern spricht. Die Erwachsenen reden vom schwachen Herzen und von der labilen Gesundheit des Opfers… Noch immer scheint eine Kultur des (Ver-) Schweigens vorzuherrschen.

Max hat nicht eingreifen können, er fühlt sich schuldig am Tod seines Bruders, der ihm immer ein treuer Freund gewesen ist und ihm auch weiterhin sehr präsent bleibt. Diese Verlassenheit und Trauer wird ungemein empathisch dargestellt. Niemandem kann sich Max anvertrauen, nun ist er allein. Er findet Ruhe und Linderung seines Schmerzes in der Natur, geht regelmäßig auf Entdeckungstouren, erfreut sich an der vielseitigen Tier- und Pflanzenwelt, die uns der Autor in wunderschönen poetisch-naturalistischen Beschreibungen nahebringen kann. Er spielt dabei mit Licht und Schatten, riecht, fühlt und schmeckt; webt also umfassende Sinneserfahrungen ein. Die überaus bildliche Sprache ermöglicht dem Leser ein intensives Eintauchen in die scheinbare Dorfidylle, lässt eventuell Szenen der eigenen Kindheit auf dem Land wieder auferstehen: die zahlreichen kleinen Höfe mit Milchwirtschaft, Pferdefuhrwerke, Hausschlachtung, Sonntagsschule, erste Telefone mit Wählscheibe, Dampflokomotiven und Bonanza am Sonntagnachmittag… Atmosphäre schaffen kann der Autor erstklassig: Egal ob verwunschener Park, verlassenes Gebäude, Wald oder romantischer Weiher – alles entsteht in des Lesers Vorstellung, weil sämtliche Sinne eingebunden werden. Doch auch die Schattenseiten der Nachkriegskindheit werden deutlich: „Die müssen irgendwas gemacht haben, zusammen, Männer wie Frauen, irgendwas Furchtbares.“ „Und das platzt dann aus ihnen raus, wenn sie dich prügeln. Dann können sie nicht mehr aufhören.“ (S.132) – Gewalt in der Schule, Gewalt im Elternhaus. Schweigen. Der Krieg wirkt auf vielen Ebenen noch nach.

Erzählt wird aus kindlicher Perspektive, meistens aus der von Max. Den harmonischen Szenen in der freien Natur stehen Max´ Demütigungen gegenüber. Immer wieder wird er drangsaliert und gepeinigt. Tschernik ist nichts heilig, um anderen wehzutun. Erst als Max sich mit Marga, Heinz und Rudi anfreundet, die ebenfalls unter Tscherniks Gang leiden, scheint ein Ende der Repressalien in Sicht. Die neuen Freunde stellen fest, dass man in Gemeinschaft nicht nur Abenteuer erleben kann, sondern zusammen auch stärker ist und dem Feind entgegentreten kann. Ein Widerstand formiert sich.

Während der Roman hochdramatisch beginnt, kommt die Handlung schnell in ruhigere Fahrwasser. Man solidarisiert sich mit dem ruhigen, einsamen Max, begleitet ihn auf seinen Erkundungstouren und freut sich, als er endlich Anschluss zu Gleichaltrigen bekommt. Erwachsene spielen kaum eine Rolle, positive männliche Vorbilder lässt die Zeit nicht zu. Auch wenn die Schilderung der meisten Erlebnisse sehr authentisch gelingt, wirkt der weitere Handlungsablauf auf mich doch ziemlich vorhersehbar. Natürlich darf in einem klassischen Entwicklungsroman auch das sexuelle Erwachen des Protagonisten nicht fehlen. Die Erlebnisse an sich mögen glaubwürdig geschildert sein, allerdings halte ich sie im Alter von 11 Jahren für reichlich verfrüht, noch dazu in den 1960er Jahren. Gleichfalls störe ich mich in dem Zusammenhang an Vokabeln wie Möse oder Fotze, während auf der Gegenseite von Zipfel die Rede ist, was auf mich kindgerechter wirkt. Insgesamt wirken die meisten halbwüchsigen Charaktere für ihr Alter sehr reif und abgeklärt, was aber auch der Zeit geschuldet sein könnte.

Die Stärke des Romans liegt eindeutig im Atmosphärischen. Wer Entwicklungsromane liebt, wird in diesen wunderbar eintauchen können. Der poetische, verschachtelte Schreibstil liest sich wunderbar. Die Nachkriegskindheit mit Licht- und Schattenseiten wird veranschaulicht, immer wieder erinnern kleine Episoden an diesen bedrückenden Hintergrund. Mir hat noch ein bisschen was Besonderes gefehlt, ein bisschen weniger Sexualität und mehr Überraschungen vielleicht. In der zweiten Hälfte hat mich die Geschichte deshalb nicht mehr völlig erreichen können. Dennoch hoffe ich, dass Volker Widmann weitere Romane schreiben wird. Denn Schreiben kann er wirklich gut.