Rezension

Es rührt einem die Seele um

Zitronen -

Zitronen
von Valerie Fritsch

Bewertet mit 4.5 Sternen

Man sollte sich nicht blenden lassen von den frischen Farben des Covers und dem wunderschönen Schreibstil: Die Geschichte dahinter ist bodenlos traurig.

August Drach wird von seinem gewaltbereiten Vater häufig misshandelt und anschließend jedes Mal von der  Mutter liebevoll versorgt und gehätschelt. Als der Vater eines Tages die Familie verlässt, beginnt die Mutter, August heimlich Medikamente ins Essen zu mischen, um ihn in zärtlicher Abhängigkeit zu halten und die anerkennende Aufmerksamkeit der Nachbarschaft zu erlangen.

Valerie Fritsch schildert den Werdegang des Jungen zum Mann, sein Entkommen, seine erste Liebe, seine Rückkehr in überwältigender Sprache. Die ist derartig außergewöhnlich in ihren Bildern und Ausdrücken, in ihrer ganzen poetischen Kraft, dass man gerne der Versuchung nachgibt, einzelne Sätze mehrmals zu lesen. Manchmal allerdings scheint das höchst anspruchsvolle Spiel mit den Worten zum Selbstzweck zu geraten und irritiert durch Aus- und Abschweifungen.

Das scheinbar Unmögliche, die Beweggründe der Mutter nahe zu bringen, gelingt der Autorin ohne Mühe, ebenso die daraus resultierende folgerichtige Entwicklung des versehrten Jungen. Dessen Los rührt an, man möchte am liebsten hineingreifen, ihn fassen und retten, und leidet, da das nicht gelingen kann.

Schonungslos wird ein kollektives Versagen aufgezeigt: das von Institutionen wie Familie, Gemeinschaft, Gesellschaft. Inmitten von Menschen kann etwas völlig Verwerfliches gelingen und unbemerkt Früchte tragen. 

Nicht nur die Sprache, auch die Konstruktion ist meisterhaft. Beinahe so, als habe das Ende der Geschichte als erstes festgestanden und alles andere sei ihm unterworfen worden, um exakt den einzig richtigen Weg dorthin zu finden.

Dieses großartige und grundtraurige Buch rührt einem beim Lesen die Seele um. Es fängt ein und verzaubert und ist doch so unentrinnbar düster, dass es vielleicht doch bei einigen den Wunsch hinterlässt, es nie gelesen zu haben.