Rezension

Familiengeschichte und Kunstszene in der Belle Époque

Sei mir ein Vater - Anne Gesthuysen

Sei mir ein Vater
von Anne Gesthuysen

Bewertet mit 4.5 Sternen

„Sei mir ein Vater“ ist ein bezaubernder Roman, der in mehreren Zeitebenen spielt. Zum einen ist da Lilie, alleinerziehende Mutter eines Sohnes, die in Paris lebt. Sie wird in ihrer Wohnung überfallen, wobei ein altes Bild eines ihrer Vorfahren zu Schaden kommt. Dieses Bild und der daraus gefundene Brief wird der Anlass für Lilie mehr über ihre Vorfahren zu erfahren und sich auf eine abenteuerliche Reise einzulassen. Dabei ist ihre beste Freundin Hanna und Hannas Vater Hermann. Beide sieht sie als auch als ihre Familie, seit sie sie bei ihrem Schüleraustausch kennen und lieben gelernt hat.

Eine zweite Zeitebene spielt Ende des 19. Jh. bis zum Ende des Ersten Weltkrieges. Hier lernt man die Malerin Georgette Argutte  und den bekannten Sozialisten Marcel Sembat kennen. Zwei ungewöhnliche Charaktere, die tief mit der damaligen Künstler- und Politikszene verknüpft sind. Sie sind bekannt mit Henri Matisse, Paul Signac, Amedeo Modigliani und viele andere. Durch sie bekommt man einen interessanten Einblick in die Belle Époque.

Die Handlungsstränge wechseln sich ab und sorgen für einen kontinuierlichen Spannungsbogen. Beide sehr verschiedene Familiengeschichten werden detailliert und liebevoll erzählt. Zu Beginn hatte ich etwas Probleme die ganzen Namen und Verbindungen besonders im Argutte-Handlungsstrang zu verfolgen, dies ließ aber nach. Das verbindende Motiv: das Vater-Tochterverhältnis hat die Autorin sehr schön herausgearbeitet. Auch die Entwicklung der Frauen Georgette und Lilie ist nachvollziehbar und realistisch. Ich hätte mir gewünscht noch mehr das Flair der Belle Époque während des Lesens des Georgette Handlungsstrang zu spüren. Da fehlten mir etwas die Beschreibungen des Lebens und der Umgebung von Georgette Lebens, vor allem im ersten Teil des Romans.

Dennoch der Roman zeigt was Familie, Liebe bedeutet, was man zu geben bereit ist. Die Charaktere sind fein und realistisch gezeichnet. Besonders Hanna und Hermann, obwohl nicht die Protagonisten, sind mir richtig ans Herz gewachsen.

Das der Roman dazu noch reale Bezüge hat, zum Einen Georgette Argutte, die wirklich gelebt hat und zum anderen der Handlungsstrang von Lilie, der von Erlebnissen der Autorin inspiriert ist, macht den Roman noch authentischer. Er hat mir so eine Szene näher gebracht, worüber ich kaum etwas wusste: die französische Künstlerszene vor dem Ersten Weltkrieg.  

Noch zum Hörbuch direkt. Das Hörbuch an einigen Stellen gekürzt, was bei der Handlung keinen Abbruch tut. Leider wurde das Nachwort, wo die Autorin darauf eingeht, wo sie die Inspiration für die Figuren bekommen hat und was authentisch ist und was nicht, völlig weggelassen. Das ist wirklich schade. Die Sprecherin des Hörbuches Doris Wolters macht ihren Job sehr gut. Ihre Stimme ist unaufgeregt, sie kann ihre Stimme soweit verändern, dass sie die einzelnen Charaktere herauszuhören sind, ohne dass es unecht und übertrieben klingt. Ich habe ihr jedenfalls gerne zugehört.