Rezension

Fein gezeichneter Mädchenroman aus dem 19. Jahrhundert, etwas moralisierend, aber keineswegs prüde

Betty und ihre Schwestern - Gesamtausgabe - Louisa May Alcott

Betty und ihre Schwestern - Gesamtausgabe
von Louisa May Alcott

Bewertet mit 5 Sternen

"Viel zu ruhig und harmoniebedürftig" nannte eine unzufriedene Leserin dieses Buch vor einiger Zeit in einem Internetforum. Das allein wäre schon Grund genug für mich gewesen, es zu lesen;  außerdem liebe ich echte "historische" Romane, weil man einen wirklich authentischen Einblick in die Zeit bekommt. Aber der eigentliche Anstoß kam durch eine private Leserunde, der ich mich spontan anschloss. Ich stellte bald fest, dass ich das alles in meiner Jugend schon mal gelesen haben muss, aber offensichtlich in einer stark gekürzten Ausgabe. Jedenfalls überraschte mich Louisa M. Alcott mit einer intelligenten, humorvollen Schreibart, die in der Fassung einer anonym gebliebenen Übersetzerin des beginnenden 20. Jahrhunderts mit wunderbarem Stil und Sprachwitz ins Deutsche übertragen wurde.

Der Klassiker von Louisa M. Alcott beschreibt das Aufwachsen der vier Mädchen Meg, Jo, Betty und Amy in einer neuenglischen Kleinstadtidylle des 19. Jahrhunderts, ihre kleinen und großen Nöte, ihre familiäre Geborgenheit, ihr Heranreifen zu jungen Frauen. Legendär ist das Pickwick-Club-Spiel der literarisch interessierten Schwestern auf dem Dachboden der mittellosen Familie, oder das Pilgerspiel der Mädchen, mit dem sie Bunyans "Pilgerreise" nachspielen, oder auch die herrlich klamaukige kleine Theateraufführung, die Jo, die schreibbegabte Zweitälteste, mit ihren Schwestern inszeniert.

Dass wir in einem Klassiker hin und wieder Ansichten finden, die uns aus heutiger Sicht befremden, ist nur natürlich und bleibt auch in diesem Buch nicht aus. Trotzdem empfinde ich die Ansichten, die die Autorin darin zu transportieren bemüht ist, für die damalige Zeit als sehr progressiv. Das beginnt mit der burschikosen, auf dem Kaminteppich hingeflözten Jo, setzt sich fort in der Umkehrung so mancher Rollenklischees (das Mädchen Jo wirft dem reichen Nachbarsjungen Laurie einen Schneeball ans Fenster und sagt zu ihm: "Lassen Sie sich durch Ihre Schüchternheit nicht beirren, die verliert sich bald, wenn Sie mehr Umgang haben"), bis hin zu einer aufgeklärten Mutter, die ihre Jüngste aus der Schule nimmt, weil der Lehrer auf Lappalien mit körperlichen Züchtigungen reagiert. Was nicht heißt, das im Buch nicht moralisiert wird, und das nicht zu knapp, so dass es dem modernen Leser schon mal auf den Nerv gehen kann. Aber Alcott ist eine so feine Charakterzeichnerin, schreibt so klug und witzig, dass ich bereit bin, ihr vieles nachzusehen. Ausgiebig macht sie sich über Charakterzüge und Eigenheiten ihrer jungen Romanfiguren lustig, doch niemals bösartig, sondern immer liebevoll wertschätzend, was sie für mich übrigens in die Nähe von Fontane rückt. Mit Scharfblick arbeitet sie die Umwege und Abgründe im Innenleben ihrer Figuren heraus. Und für ein moralisches Werk aus alter Zeit ist es, bei Licht besehen, auch herrlich unprüde, wobei manches - im Zusammenhang mit Kindern - für unsere Ohren fast schon wieder ein bisschen zu unprüde wirkt.

Der Anaconda Verlag fasst die beiden ursprünglich separat erschienen Bände "Little Women" und "Little Wives" als Teil 1 und 2 in einer liebevoll gestalteten Ausgabe zusammen. Hat man etwas Zeit und Muße, lohnt es durchaus, nach Beendigung des ersten Teils weiterzulesen, auch wenn so ein altes Werk naturbedingt ein paar Längen hat. Die allerletzten Kapitel sind so eine Art Genusskapitel, damit man nach der ganzen Aufregung noch ein bisschen gemütlich gebauchpinselt wird beim Lesen. Und, ja, man wird, und es ist äußerst nett zu lesen; ich mag es ja, wenn man in einem Happy End noch ein bisschen schwelgen kann, bevor es vorbei ist. Und - klar wird es kitschig. Dennoch habe ich am Ende die ganze Zeit gelächelt. Ein bisschen Kitsch tut gut.

Kommentare

Arbutus kommentierte am 19. Juni 2020 um 15:03

Kleine Korrktur: der zweite Band heißt im Original "Good Wives".

wandagreen kommentierte am 19. Juni 2020 um 15:57

Schade, dass ich schlapp machte. Sehr schöne Rezension. Das tut Louisa May gut. Vllt kann sie inzwischen deutsch - Zeit genug hätte sie ja. Auf einer feinen Wolke, bedient von satten Putten.

Arbutus kommentierte am 20. Juni 2020 um 22:36

Ja, schade, dass Du schlapp machtest (Es klapperten die Klapperschlangen, bis ihre Klappern schlapper klangen). Aber dagegen gibt es ein gutes Mittel: einfach wieder weiterlesen!