Rezension

Für das Wohl aller müssen Opfer gebracht werden!

Renegade - J. A. Souders

Renegade
von J. A. Souders

Bewertet mit 4.5 Sternen

Eine scheinbar perfekte Welt tief unter dem Meer, abgeschirmt von der Oberfläche, wird für Evie zum Alptraum, als sie die Wahrheit über sich selbst, ihre Umgebung und vor allem über ihre eigene Mutter erfahren muss.

 

Ihr Leben ist absolut perfekt. Jedenfalls ist Evelyn Winters felsenfest davon überzeugt. Sie liebt ihren eigenen Garten in den Tiefen des Ozeans und befolgt bereitwillig die strengen Regeln, die ihre eigene Mutter, die Herrscherin von Elysium, für alle Bewohner der Unterseeanlage aufgestellt hat. Das Einzige, was sie als störend empfindet, sind die seltsamen Bilder, die manchmal in ihrem Kopf aufflackern und sie quälen, und die unguten Gefühle im Bezug auf ihre Umgebung, die sie immer wieder überkommen.
Eines Tages steht plötzlich einer der verhassten Oberflächenbewohner vor ihr, dem es überraschenderweise gelungen ist, in Elysium einzudringen. Anstatt ihn sofort auszuliefern, versucht sie ihm zu helfen.
Und muss bald erkennen, dass ihre Vergesslichkeit kein Zufall und ihr Zuhause genauso wenig perfekt sind wie die Frau, die sie großgezogen hat.

 

Der Erstling von J. A. Souders beginnt schleichend, mit einer knappen Einführung in die fremde Welt unter Wasser, die einem so rätselhaft und unheimlich zugleich anmutet, aber bloß kurz in ihrer Schönheit geschildert wird. Dafür fallen die andersartig gedruckten Sätze einem sofort ins Auge und gewinnen bald an Bedeutung, die dem Leser wesentlich schneller klar wird als der Hauptfigur. Trotzdem oder gerade deswegen finde ich diesen Kunstgriff sehr gelungen. Von Anfang an verfolgt man das Geschehen mit einem Stirnrunzeln und wird auf diese Weise förmlich in das Geschehen hineingezogen. Ein Geschehen, das man erst nicht begreift oder begreifen will, weil es schon auf den ersten Seiten zu überraschenden Wendungen kommt, mit denen man so früh nicht gerechnet hätte.
Zudem wirkt der Schreibstil distanziert und beinahe emotionslos steril, was allerdings letzten Endes sehr gut zu den Gegebenheiten rund um Evie passt.
Und zur Umgebung, die mich gleich am Anfang an das Videospiel Bioshock erinnert hat, so unheimlich erscheint dieser von seinen Bewohnern als wundervoll gepriesene Ort in den Tiefen des Meeres. Zu jener Perfektion, so unnatürlich sie ist, passen keine blumigen oder allzu bildliche Metaphern, besonders da sie von Mutter mit solcher Brutalität erzwungen wird, wie ich sie selten in Büchern erlebt habe. Nicht einmal im ersten Band der Tribute-von-Panem-Reihe. Der Vergleich mit Bioshock drängt sich dabei immer stärker auf, obwohl die Thematik ganz anders umgesetzt ist.

 

Die Figuren, allen voran Evie und Gavin, bestechen durch ihre Tiefe. Sie alle haben unterschiedliche Facetten, die zwar nach und nach zutage treten, dafür aber die Spannung deutlich erhöhen und sie nicht zu einseitig präsentieren. Evelyn zum Beispiel macht zuerst einen liebenswürdigen und etwas verträumt naiven Eindruck. Nur ihr eigener Wille, den Mutter nicht auslöschen kann, gewinnt mit jeder Zeile an Stärke, ein kontinuierlicher Prozess, für den sich die Autorin viel Zeit nimmt, was ich sehr positiv finde. Gavin dagegen wird stetig zu einer Person, die Evelyn dringend braucht, um sich selbst nicht zu verlieren. Die beiden bilden eine schöne Mischung, ein tolles Pärchen, auch wenn ihre Annäherung aneinander etwas schnell vonstatten geht, meiner Meinung nach.
Vor allem da ihre sich anbahnende Beziehung das Geschehen in zwei Hälften aufteilt: Bevor und während sie sich kennen lernen, entwickelt sich die Story eher langsam und subtil. Kaum sind sie sich soweit näher gekommen, dass sie einander vertrauen, gewinnt die Handlung rasant an Geschwindigkeit und ein Ereignis jagt das nächste, manchmal sogar auf ziemlich hektische Art und Weise, weil die zwei lediglich reagieren und ihre Strategie den zahlreichen Hindernissen anpassen müssen. Des Öfteren geraten sie in Sackgassen, die nicht alle wirklich nötig sind, um den Leser bei der Stange zu halten. Das Gute daran ist, dass man dabei mehr über Elysium selbst und die Geschichte der Anlage erfährt. Dennoch bleiben leider viele ungeklärte Fragen am Ende offen, die meines Erachtens wichtig sind, um die Hintergründe besser zu verstehen.

 

Renegade, zu Deutsch: Überläufer (ein deutliches Indiz für Evies Werdegang), besticht durch seine interessanten Figuren und das ungewöhnliche Setting, das etwas zu kurz kommt. Man wird förmlich in die Welt hineingeworfen und erlebt sie mit den Augen der Hauptfigur, auch wenn man dank eines Kunstgriffs schon anfangs mehr weiß als Evelyn. Das sorgt für reichlich Spannung und der flüssige, wenn auch schmucklose Schreibstil lässt einen den Roman zügig lesen. Ungewöhnlich viel Gewalt für ein Jugendbuch könnte so manchen abschrecken, da sie zudem noch psychologisch sehr beklemmend ist. Doch das Thema der Manipulation des menschlichen Körpers an sich ist eines, mit dem man sich ruhig auseinandersetzen sollte, denn abwegig ist es auf keinen Fall. Und Renegade stellt die negativen Folgen sehr plastisch und nachvollziehbar dar. Dass dabei so einige Fragen nicht beantwortet werden, darüber kann man sich mit der Tatsache hinwegtrösten, dass bereits ein Folgeband in Planung ist. Der erste Teil der Reihe hat mir auf jeden Fall einige unterhaltsame und vor allem nachdenkliche Stunden beschert, die ich nicht missen möchte.