Rezension

Gelungene Mischung aus Krimi und Historie

Leipziger Zeitenwende -

Leipziger Zeitenwende
von Gregor Müller

Bewertet mit 5 Sternen

Mord oder Selbstmord?

Gregor Müller hat mit „Leipziger Zeitenwende“ seinen zweiten Krimi um den Kriminalcommissar Joseph Kreiser geschrieben, der 1899 in Leipzig tätig ist. Den ersten Roman „Völkerschau“ kannte ich nicht, bin aber vollkommen problemlos eingestiegen, da die Romane in sich abgeschlossen sind.

Eigentlich soll Joseph Kreiser die Fälschungen der sog. „Lotto-Bande“ bearbeiten, die falsche Lottoscheine in den Umlauf bringt, das sagt zumindest sein Chef... Aber auf dem Rückweg von seinen Ermittlungen kommt er an einer „Leichenaufhebung“ (ein großartiges altes Wort, kannte ich noch nicht: ein Kriminalcommissar muss die Leiche untersuchen, erst dann kann sie „aufgehoben“ werden) vorbei, die Joseph kurzerhand übernimmt – zum einen um den Schutzmann Welm weiteres Herumstehen in der eisigen Kälte zu ersparen, zum anderen aus purer Neugier (vermute ich mal) ... Es sieht so aus, als habe eine junge Prostituierte Selbstmord begangen.

Sehr gut und erschütternd eindringlich fand ich Josephs Besuch in der „Zwangsarbeitsanstalt“ beschrieben, wo er der Mutter der jungen Frau persönlich deren Tod mitteilen möchte. Von dieser Mutter berichtet der Anstaltsleiter: „Nachdem sie sich eingewöhnt hatte, hat sie kaum noch Probleme bereitet. Sie ist eher aus Rat- und Führungslosigkeit in einen liederlichen Lebensstil verfallen als aus vollkommener Verrohtheit des Charakters wie viele andere.“ (S.63/64) Zur Erinnerung: wir schreiben das Jahr 1899...

Und es geschehen noch mehr Selbstmorde – oder waren es doch Morde?

Der Autor hat zu einem interessanten Stilmittel gegriffen, das ich bisher noch nicht kannte: er lässt Joseph seiner Vermieterin Hannah Kaiser am Abend seinen Tag, seine Gedanken und seine Schlussfolgerungen genau berichten, so dass wir Leser*innen immer „dabei“ sind.

Die Zusammenarbeit mit dem Staatsanwalt Gustav Möbius ist von gegenseitigem Respekt und Vertrauen geprägt, denn im Gegensatz zu seinem Chef erhält Joseph vom Staatsanwalt auch (gedankliche) Unterstützung.

Der Kriminalfall an sich ist schon spannend, aber einen Teil der Faszination dieses Buches machte für mich sicherlich auch der sorgsam recherchierte geschichtliche Teil aus. Wir erleben ein authentisches Leipzig von 1899: wir erfahren viel über das tägliche Leben, Zusammenhänge, politische Strömungen (wie schnell konnte jemand in bittere Armut abstürzen!), Kaisertreue usw.  Bei vielen Gedankengängen konnte ich Vergleiche zur heutigen Zeit ziehen, z.B.: „Je höher die Herzen für das Vaterland schlugen, desto mehr Platz schien darin für Hass auf alles Fremde zu sein. Anscheinend war es nicht möglich, die eigene Nation zu lieben, ohne die anderen zu verabscheuen.“ (S. 160)

Wirklich, eine gelungene Kombination von Krimi und historischer Darstellung, die das Buch unterhaltsam macht und durch den gelungenen Schreibstil auch flüssig zu lesen ist. Ich werde mit Sicherheit den ersten Band „Völkerschau“ lesen, dann bin ich informiert, wie alles begann – und hoffe auf weitere Bücher dieses Autors! Die „Leipziger Zeitenwende“ kann ich allen Liebhaber*innen von historischen Kriminalfällen nur allerwärmstens empfehlen!