Rezension

Geschichten aus dem Gefängnis...

Kaltfront -

Kaltfront
von Selahattin Demirtas

Bewertet mit 4.5 Sternen

Schon die Widmung sorgt für Gänsehaut. Die Kurzgeschichten bieten einen schonungslosen Blick auf die Türkei und die Ärmsten der Gesellschaft...

Wenn ein Vater das Gesetz schützen soll, doch stattdessen das größte Unrecht geschehen lässt. Wenn sich ein Mann bei dem Versuch, sein Leben zu bestreiten, durch sein Schweigen schuldig macht. Wenn ein Kind in einer Gesellschaft aufwächst, in der Mitgefühl bestraft wird. Die beinahe märchenhaft anmutenden Kurzgeschichten in »Kaltfront« blicken tief in die Seele der Türkei. Mitfühlend und liebevoll erzählt Demirtaş von den Ärmsten der Gesellschaft: den Hilfsarbeitern, den Busfahrern, den Straßendieben – sie alle eint der Wunsch nach einem glücklichen Leben und die schiere Ausweglosigkeit ihrer Situation. (Verlagsbeschreibung)

Geschichten aus dem Gefängnis. Nein, die 14 Kurzgeschichten handeln nicht vom Gefängnis, der Autor schrieb sie als Inhaftierter - er befindet sich seit November 2016 in Haft. Selahattin Demirtaş hat sich politisch sehr engagiert in einer prokurdischen Partei, ist Mitglied bei Amnesty International, war Direktor einer Menschenrechtsvereinigung, war Erdogan als Gegenkandidat bei den türkischen Parlamentswahlen ein Dorn im Auge und wurde daraufhin wegen "Mitgliedschaft in einer Terrororganisation" zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Der amtierende Präsident der Türkei ist ja für seinen Umgang mit Oppositionellen berüchtigt. Selahattin Demirtaş wurde im Frühjahr 2019 für den Friedensnobelpreis nominiert.

"Kaltfront" ist bereits der zweite auf Deutsch erschienene Band mit Kurzgeschichten von Selahattin Demirtaş, die er im Hochsicherheitsgefängnis von Edirne verfasst hat. Jede der Geschichten befasst sich mit den teilweise brutalen Gegebenheiten in der Türkei - die Ausweglosigkeit der Armut, die fehlende Bildung v.a. in den kleinen Bergdörfern, die Skrupellosigkeit von Regierung, Justiz und Wirtschaft, die oftmals fehlende Mitmenschlichkeit, das Zerschlagen von Hoffnung, wenn die Realität die Menschen einholt, das Trauma eines Menschen, der einen (totgeschwiegenen) Angriff auf ein kurdisches Dorf überlebt hat. Aber die Geschichten weisen auch auf Möglichkeiten hin - stiller oder lauter Protest, um die Ohnmacht zu überwinden, Zivilcourage, der Glaube.

Bedrückend sind die Erzählungen häufig, der leise Humor, der hier und da aufblitzt, bleibt einem dann gleich wieder im Halse stecken. Selahattin Demirtaş macht die Ohnmacht der Armen, Verfolgten, Unterdrückten spürbar, und doch ist da der unbedingte Lebenswille der vorgestellten Charaktere und ihr Versuch, die eigene Geschichte zum Guten zu wenden. 14 Kurzgeschichten, die nichts beschönigen.

Mich haben die Erzählungen größtenteils nicht unberührt gelassen. Wohl dosiert gelesen, verschaffen sie einen intensiven Einblick in die Türkei jenseits der Urlaubs-Prospekte. Unbequeme Lektüre - aber wichtig.

 

© Parden