Rezension

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Grässlich.

Agnes - Peter Stamm

Agnes
von Peter Stamm

Bewertet mit 1 Sternen

Es ist Samstagnachmittag, die Sonne scheint und ich sitze mit einem Glas Limonade auf dem Balkon. "Agnes" von Peter Stamm liegt neben mir und ich beginne mit dem Roman. Was ich vorher über das Buch weiß: Es erzählt eine Liebesgeschichte, war Pflichtlektüre für irgendwelche Schüler und die Bewertungen sind gemischt. Ich bekam das Buch geschenkt und empfohlen. Ich nehme Euch mit auf meine Lese-Reise. Voller Spoiler. Aber so kann man sich die Lektüre sparen.

"Agnes ist tot. Eine Geschichte hat sie getötet." Das sind die ersten zwei Sätze des Romans. "Spoiler!", denke und sage ich und frage mich, ob ich das Buch weiterlesen soll. Keine glückliche Liebesgeschichte also. Nungut, es ist eine große Schrift und 150 Seiten dürften schnell gelesen sein. Vielleicht ist es ja bewegend, denke ich mir.

Die ersten Seiten erzählen den Rahmen der Geschichte: Agnes ist Physikstudentin. Sie arbeitet in der Bibliothek, wo der namenlosbleibende Protagonist, ein Schriftsteller, auf sie aufmerksam wird. Gemeinsam rauchen sie eine Zigarette und beginnen eine Beziehung.

" 'Ich esse überhaupt nicht gern', sagte Agnes" bei der ersten richtigen Verabredung der beiden. Es ist S. 23 des Buches und ich lasse es zum ersten Mal sinken. Ich liebe Essen, Kochen und Genuss und weiß spätestens jetzt, dass mir die weibliche Protagonistin unsympathisch ist.

Rund 20 Seiten später: Agnes zeigt ihrem Schriftsteller-Freund eine Kurzgeschichte, die sie geschrieben hat. Es liest sich wie die Kurzgeschichte eines Drittklässlers, emotionslos, ausdruckslos. Unrealistisch, irgendwie. Auch ihr Schriftsteller-Freund findet es grässlich, schweigt sich darüber aus. Allerdings geht es ihm mehr darum, dass er eifersüchtig ist, nicht will, dass sie schreibt. Also löscht sie die Geschichte. Damit ist klar: Ihn mag ich auch nicht.

Ab S. 51 beginnt er damit, eine Geschichte über sie zu schreiben. Nicht ganz freiwillig, sie hatte ihn darum gebeten, geradezu gebettelt, von ihm be-schrieben zu werden. Er beginnt mit der Kennenlerngeschichte, die man als Leser also zum zweiten Mal liest, ein wenig anders, mit bestimmten Fokussierungen, ein bisschen Meta-Ebene. Die Idee gefällt mir.

Wenige Seiten später hat der Schriftsteller-Freund in seiner Beschreibung die Vergangenheit abgeschlossen und beginnt über die Zukunft seiner Beziehung zu Agnes zu schreiben. Die beiden machen sich einen Spaß draus und leben aus, was er schreibt. Auf diese Art macht er ihr den Vorschlag, bei ihm einzuziehen. Eine nette Idee, denke ich noch immer. So schreibt der Schriftsteller auch seinen Heiratsantrag auf und lässt ihn im Manuskript bereits passieren. Die Wirklichkeit hingegen sieht anders aus:

"Dann sagte Agnes: 'Ich bin schwanger ... ich kriege ein Kind', sagte sie. 'Freust du dich?' [...] Ich schüttelte den Kopf und sagte nichts. Agnes begann, leise zu weinen. 'Agnes wird nicht schwanger', sagte ich. 'Das war nicht ... Du liebst mich nicht. Nicht wirklich.' "

S. 89 und diese Passage ist für mich an Absurdität kaum zu überbieten. Die Realität passt nicht zur Fiktion des Schriftstellers, die vorher so oft beschriebene Liebe, Zuneigung und Nähe zu Agnes löst sich scheinbar einfach in Nichts auf. Die Liebe wird vollkommen in Frage gestellt. Ich lasse das Buch wieder sinken und bin genervt. Aber gut, ich bin halb durch, den Rest gebe ich mir nun auch noch, denke ich.

Die beiden trennen sich, sie zieht aus, er lernt Louise kennen, eine weitere sehr unsympathische Frau. Nebenbei schreibt er seine Geschichte mit Agnes weiter, in seiner Fiktion bleiben sie zusammen, sind sich sicher, dass sie die Herausforderung eines gemeinsamen Kindes meistern können. Er spinnt diese Geschichte weiter, lässt das Kind – Margaret – auf die Welt kommen. Eine Flucht in die Fiktion?

S. 109: Eine Freundin Agnes' ruft ihn an und erzählt ihm, dass es Agnes schlecht ginge. Er verspricht, sie zu besuchen. Dann allerdings:

"Wenn ich jetzt zu Agnes gehe, dachte ich, dann ist es für immer. Es ist schwer zu erklären, obwohl ich sie liebte, mit ihr glücklich gewesen war, hatte ich nur ohne sie das Gefühl, frei zu sein. Und Freiheit war mir immer wichtiger gewesen als Glück."

Meine Abneigung gegen den Protagonisten wächst ins Unermessliche. Und dann? Dann besucht er sie doch. Sie allerdings hat das Kind verloren (was ihn erleichtert). Sie versöhnen sich, sie zieht wieder zu ihm. Ich verstehe keinen der möglichen Beweggründe der Protagonisten. Was soll's, denke ich mir, sind nur noch 30 Seiten.

Er beginnt, eifersüchtig auf ihren Professor zu sein, erzählt ihr von Louise und dem Roman mit dem geborenen Kind. Gemeinsam schreiben sie die Geschichte weiter, kaufen Spielzeug und Kleidung für das fiktionale Kind. Als Agnes erkennt, wie krank das ist, wirft sie alles weg.

" 'Ich lese nicht mehr viel', sagte Agnes, 'vielleicht deshalb. Weil ich nicht mehr wollte, dass Bücher Gewalt über mich haben. Es ist wie ein Gift.' "

S. 120. Natürlich. Sie isst nicht gern, sie liest nicht gern, denke ich mir. Meine Güte. Weihnachten kommt, sie schlafen zum ersten Mal wieder miteinander (ihr Geschenk an ihn). Agnes wird krank, erkältet sich. Der Protagonist schreibt ihre Geschichte zuende, ein glückliches Ende, an Neujahr. Er liest es ihr vor, sie ist unzufrieden, er ist unzufrieden. Also schreibt er einen zweiten Schluss, zu dem er schon früher eine Idee hatte.

Silvester kommt, Agnes ist noch immer krank, er hat eine Einladung von Louise erhalten und nimmt diese an. Während er Silvester ausgelassen bis in die Morgenstunden feiert, findet Agnes das alternative Ende auf seinem Computer. Als er betrunken nach Hause kommt, ist sie weg, die Geschichte ist offen. Ihre Geschichte, mit dem alternativen Ende, in dem sich Agnes im Park in den Schnee legt. "Es heißt, zu erfrieren sei ein schöner Tod." sagte sie vorher in einem Gespräch einmal. Und damit sind wir wieder am Anfang:

"Agnes ist tot. Eine Geschichte hat sie getötet."

Ich lege das Buch zur Seite. Er hat sie also getötet, denke ich mir. Sie hat das Spiel vom Anfang wieder aufgenommen, die Geschichte in die Realität umgesetzt. Bücher, Geschichten, haben also tatsächlich solch eine Gewalt über sie. Gift. Der Kreis schließ sich.

Nicht schlecht gemacht, denke ich mir. Interessante Ideen. Und trotzdem: Grässliche Geschichte.