Rezension

Harte Kost

Das Wolfsmädchen -

Das Wolfsmädchen
von Christian Hardinghaus

Bewertet mit 5 Sternen

„...Über 20000 verwahrloste deutsche Kinder flüchteten infolge des Zweiten Weltkriegs ab 1946 aus dem sowjetisch besetzten, nördlichen Ostpreußen nach Litauen, um nicht den Hungertod sterben zu müssen. Man hat sie Wolfskinder genannt...“

 

Mit diesen Sätzen beginnt das Vorwort des Autors. Es deutet an, was einen als Leser erwartet. Ursula, eines der Wolfskinder, steht im Mittelpunkt. Das Buch ist eine Kombination aus Lebensbeschreibung und Sachbuch. Ursulas Geschichte wechselt mit Fakten zum Zeitgeschehen.

Das Buch ist keine leichte Lektüre. Die realistische Schilderung der Verhältnisse ist teilweise extrem heftig. Es war mir nicht bewusst, was Hunger mit Menschen machen kann.

Nach Vorwort und Einleitung erfahre ich als Leser einiges über die Historie von Königsberg. Dort wurde Ursula 1935 geboren. Schon früh kümmert sich das Mädchen um die jüngeren Geschwister. Das Verhalten der Mutter ist schwer verständlich. Der Vater ist im Krieg.

 

„...Warum ist ihre Mutter so gefühlskalt? Warum so egoistisch?...“

 

Nach der Bombardierung Königsbergs spitzt sich die Situation zu. Der Mutter wird die Abreise gen Westen nahegelegt, da sie vier Kinder hat. Doch sie lehnt ab. Das wird ihr Ursula ihr Leben lang nicht verzeihen, denn sie ist es, die sich mit ihren neun Jahren nun um Lebensmittel für die Familie kümmern muss.

Immer wieder untersetzt der Autor mit Zahlen und Fakten, was das Kriegsende für Königsberg bedeutete. Hier wird nichts beschönigt, die Verbrechen beim Namen genannt. Doch dazwischen gibt es kurze Episoden der Menschlichkeit.

Ursula gelingt es, mit dem Zug nach Litauen zu kommen. Dort kann sie sich satt essen. Litauen gilt unter den Wolfskindern als das gelobte Land. Sie kehrt mit Lebensmitteln zu ihrer Familie zurück. Einer zweite Reise nach Litauen, bei der sie die Mutter begleitet, ist keine Rückkehr mehr beschieden. Die jüngeren Kinder bleiben bei einer Bekannten zurück. Das Verhältnis zur Mutter wird zunehmend ambivalenter. Ursula ist die Handelnde, die Mutter die Nutznießerin.

Nur kurze Kapitel sind der erzwungene Ausreise in die DDR gewidmet. Dort besucht Ursula die Schule und macht eine Ausbildung. 1953 flieht sie mit der Mutter in die BRD. Auch hier ist der Anfang kein Zuckerschlecken.

 

„...Während viele Geflüchtete aus der DDR bald leidvoll erkennen müssen, dass sie auch im Westen nicht sonderlich willkommen sind und erneut mit Vorurteilen zu kämpfen haben, wird Ursula und Martha bewusst, dass sie als Heimatvertriebene unter den Flüchtlingen sogar noch weiter unten stehen. An unterster Stelle...“

 

Ursula gelingt es, sich von der Mutter zu lösen. Sie heiratet und baut sich ein eigenes Leben uaf. Erst nach der Wende arbeitet sie ihre Vergangenheit auf. Dazu gehört ein Dankschreiben an Litauen, das Land, das sie in schwerer Zeit aufgenommen hat.

Im Buch werden einige weitere Schicksale von Wolfskinder kurz skizziert. Deutlich wird, dass die Zeit tiefe Spuren hinterlassen hat. Vieles ist bis heute nicht aufgearbeitet.

Das Buch arbeitet ein dunkles Kapitel der Geschichte auf. Es sind Einzelschicksale, die berühren.