Rezension

Hat mich gepackt

Widerfahrnis
von Bodo Kirchhoff

Bewertet mit 5 Sternen

Sprachlich schön - berührende Gedanken - am Ende ist der Mensch allein

Ich habe zu diesem Buch gegriffen, weil ich schon mehrere Veröffentlichungen von Kirchhoff gelesen habe, mir sein Schreibstil, ('sah den geschehenen Lauf der Dinge, 147') und seine Thema gefallen. Allein der Titel 'Widerfahrnis' übt einen Reiz auf eine Linguistin aus.

Der Protagonist Reither (64), der nach 30 Jahren seinen Buchverlag aufgab, auch, weil es mehr Schreibende als Lesende gäbe, entdeckt das Buch einer Selfpublisherin: 'Ines Wolken'. An seiner Haustür schellt Leonie Palm, Anlass ist ihr Lesekreis. Palm gab ihren Hutladen auf, 'die Gesichter waren zu leer für Hüte (29/Metapher/Gesellschaftskritik)'. Zusammen machen sie sich zu einer Spritztour auf, er mit der Frau 'die ihn aus der Aprilkälte des Weissachtals bis in die Milde von Sizilien bringt (128)' und 'die er kaum kennt, aber schon nicht mehr verlieren will(127)'. Schön auch sein angewandtes 'don't tell, show', etwa 'er hatte lange keinen anderen Atem mehr gehört (10)'. Die Begegnung ist wie der 'Auftakt zu etwas' (27). Reither erzählt von Christine, der Schauspielerin, die ihn verließ und das Kind, das zwischen ihnen stand. Reither zieht sich zurück und wie Kirchhoff das Alter und das ganze Drumherum beschreibt, ist sprachlich ansprechend gelungen 'Es war der Anlass, der ihm endgültig klar gemacht hatte, dass er wegziehen musste, nicht nur aus der Stadt, auch weg von einem Kreis, in dem sich die runden und in Wahrheit gar nicht so runden, die zerfransten, verbeulten, notdürftig mit Buffets und Reden und zu späterer Stunde dem DJ geflickten Geburtstage häuften, damit wollte er nichts mehr zu tun haben (110/111)'. Das Cover ist so schlicht und banal wie die Begrifflichkeit 'Frankfurter Verlagsanstalt' bürokratisch abschreckend, hat fast etwas Krankhaftes, das geheilt werden müsste, dieses Wort Anstalt. Der Titel taucht in seiner Mehrdimensionalität und Doppeldeutigkeit im Roman auf (159). Man fährt gegen etwas an, wider, das Leben, das Alter, den Tod und den Verlust und gleichzeitig widerfährt einem etwas das Schicksal, der Zufall, das Ungeplante, das späte, eitle Glück. So einen und vereinen sich mit Reither und Palm zwei (von der Gesellschaft) nicht mehr Gebrauchte, Weggeräumte, sich selbst Aussortierte, Gestrandete, von Verlusten und Versäumnissen des Lebens (schon im Ausdruck schwingt Bedauern mit) Gezeichnete. Kirchhoffs Themen und Konstruktionen wiederholen oder aber ähneln sich in seinen Veröffentlichungen. So ist das mit Menschen und Autoren und ihren Präferenzen für gewisse sprachliche Strukturen und Themen wie Einsamkeit, Verlust, Tod, Sinn, Reue, späte Liebe, Zufall/Schicksal, gehen oder bleiben, Italien, zumal wenn man das entsprechende Alter erreicht hat und auch als own-voice-Autor unterwegs ist. Kirchhoff bleibt im ganzen Roman durchweg vehement Lektor und Verleger, manchmal ist mir als Autorin seine Autoren-schelte zu pauschal geraten, wirkt marginal überheblich, als habe Kirchhoff das Kupfer erfunden und den allumfassenden Überblick, wenn er von seinem höheren Ross schildert, wie weibliche Autorinnen es oft täten,schreiben, oder aber ihre männlichen Kollegen (96/97). Einziger Abzug in der B-Note.

Schön ist auch die Aktualität, das Verweben der (italienischen)Flüchtlingsproblematik in die Story. Der Erzählstrang rund um das Flüchtlingsmädchen ist rührend sowie das Ringen mit der Weinflasche und die sehr authentisch dargestellte Lebensbilanz und dass der Mensch am Ende doch allein ist, ein wenig traurig stimmt. Mich hat das Buch gepackt, auch wenn das Ende zwar real ist, aber ich mir dennoch mehr Tatendrang seitens Reithers gewünscht hätte, meine persönliche Ungeduld und der unabdingbare Wunsch des Carpe Diem im Alter, wenn nicht jetzt ,wann dann, zugreifen und beherzt festhalten, sich ein Herz fassen?