Rezension

Innovativ und aktuell

Wir sind das Licht -

Wir sind das Licht
von Gerda Blees

Bewertet mit 5 Sternen

„Mal im Ernst, das echte Leben? Als würden wir dem echten Leben ähneln. Haben Sie schon mal im echten Leben erlebt, dass die Erzählung das Wort ergreift?“

Melodie strebt nach innerer „Reinheit“ und hat Elizabeth, Muriel und Petrus davon überzeugt, dass es möglich ist, sich ausschließlich von Licht zu ernähren. Bestärkt wird sie darin durch einen amerikanischen Blogger, der ihr ein teures Online-Coaching in Sachen Nahrungsverzicht verkauft. Für ihre Schwester Elizabeth führt dieser Weg in die Selbstauslöschung. Der Amtsarzt wird misstrauisch: Im wohlhabenden Westeuropa ist eine Frau verhungert. Die WG wird verhaftet - ein Fall unterlassener Hilfeleistung?

Auf originelle Art und Weise beleuchtet Blees Phänomene unserer Gegenwart: Das Diktat der Selbstoptimierung, Vereinsamung, Falschinformation aus dem Internet, der Hang zu einfachen Erklärungen, die schleichende Radikalisierung auf verschiedensten Ebenen.  Sie zeigt auf, wo unsere freiheitliche Gesellschaft an ihre Grenzen stößt - der freie Wille umfasst auch das Recht, sich selbst zu schaden. Sonst müsste man jedem Raucher, jeder Raucherin die Zigarette von den Lippen reißen – und wo soll das hinführen? Dennoch bleibt ein Unbehagen – das Recht vermag nicht, die Schwachen vor den Manipulativen zu schützen.

Obwohl das Thema denkbar düster ist, kommt bei der Lektüre von „Wir sind das Licht“ kein Trübsinn auf. Denn Blees´ geht mit ihrem Erstling neue Wege. Sie verzichtet auf die klassischen Romanperspektiven wie den personalen oder auktorialen Erzähler. Stattdessen wählt sie vollkommen überraschende Blickwinkel, die meisten davon nicht-menschlich, ja nicht einmal organisch.  Diese Perspektiven sprechen durchweg im Plural; 28 sind es insgesamt. Mit „Wir sind der Tatort“ beginnt der Roman. Im weiteren Verlauf kommt zum Beispiel Melodies Cello, die Demenz ihrer Mutter, zwei Zigaretten, ein Kugelschreiber, die kognitive Dissonanz zu Wort. Blees Sprache ist klar, einfühlsam und gut lesbar, und das auch dann, wenn ihre Sätze über zwei Seiten gehen – eine Kunst für sich. Die ungewöhnlichen Perspektiven ermöglichen erfrischende Sichtweisen. Auch der Humor kommt nicht zu kurz. „Wir sind nur einfache Socken, und der Tod ist nicht unser Spezialgebiet…“ Oder als Melodie beschließt, nicht mehr Cello zu spielen: „Als wir das hörten, riss uns spontan eine Saite.“

Trotzdem (oder deshalb?) entsteht eine starke emotionale Beteiligung beim Lesen, vor allem im letzten Drittel. Ich habe  so mit den fehlgeleiteten, schwachen Menschen des Romans gebangt, gelitten und für sie gehofft. Zum Ende hin wird es sehr spannend – auch wenn „die Erzählung“ etwas anderes behauptet: „Langsam und vorhersehbar steuern wir auf unser Ende zu – auf die Klimax, oder die Antiklimax, das ist noch fraglich.“ Eins meiner Lieblingskapitel, eine wunderbar ironische Reflektion über den Prozess des Schreibens und die Erwartungen der LeserInnen. An dieser Stelle die Warnung, dass dies ein Roman mit offenem Ende ist – gut, dass auch offene Enden unendlich variierbar sind.

Fazit: Ein ungewöhnlicher, formal innovativer Roman über wichtige Themen unserer Zeit. Lesen!