Rezension

Interessantes Konzept, aber noch Luft nach oben

Lukusch -

Lukusch
von Benjamin Heisenberg

Benjamin Heisenberg erschafft in seinem Debütroman ein Buch zwischen Reportage, Deep Fakes und Roman. So lesen wir bereits auf den ersten Seiten, dass das Buch angeblich von Heisenberg nur „herausgegeben“ sei. Die Eltern des verschwundenen Filmemachers Simon Ritter haben sich an ihn gewandt, um ein größeres Publikum für die Suche nach ihrem Sohn zu aktivieren. Von ihm sei lediglich eine Mappe mit Dokumenten, Schriftstücken, Zeitungsausschnitten sowie Fotos erhalten. Er habe sich auf die Suche nach seinem Jugendfreund Anton und dessen ewigen Begleiter Igor gemacht und sei in Kiew verschwunden. Ob alle Mitschriften von Simon stammten sei nicht bekannt, so der „Herausgeber“.

Im eigentlichen Text begleiten wir nun Simon dabei, wie er sich auf die Spuren von Anton und Igor begibt. Diese waren kurz nach der Tschernobyl-Reaktorkatastrophe aus der Ukraine mit einem damaligen Kinderhilfsprogramm nach Westdeutschland in die Familie von Simon gekommen, um sich von der gesundheitlichen Belastung zu erholen. Nach einigen Jahren wurden sie zurück in die Ukraine geholt und der Kontakt brach ab. Das Merkwürdige: Nun taucht Igor 2019 in den Medien auf als Schachgroßmeister, obwohl doch Anton damals das Schachwunderkind gewesen ist und Igor nur der Begleiter im Hintergrund.

Auf der Verfolgungsjagd, die Simon in verschiedene Städte und Länder führt, begleitet ihn Maria, die Jugendliebe von Anton, Tochter des ehemaligen Schachlehrer Antons und heimliche, unerfüllte Liebe von Simon. Sie entdecken zusammen parapsychologische Phänomene, die bereits in der Jugend der beiden Jungs zu beobachten waren und begeben sich auf riskante Abenteuer.

Die Stärken dieses Romans liegen meines Erachtens ganz klar im Spiel von Heisenberg mit Wahrheit und Fälschung. Er produziert äußerst authentisch wirkende Dokumente und Fotos, die sicherlich einige Leser:innen dazu verführen werden, im Internet nach dem Schachgenie Anton aus Tschernobyl, der sogar mit dem Bundeskanzler Kohl Schach spielte, zu suchen. Die Deep Fakes sind Heisenberg wirklich sehr gut gelungen. Auch weiß man bis zum Schluss nicht, was hier alles in diesem Buch von Heisenberg geplant wurde und was nicht. Das Buch ist ein Schachspiel an sich. Auch die parapsychologischen Anteile sind gut gemacht und regen das Interesse an.

Leider gibt es auch zwei größere Schwächen des Romans. Zum einen drehen sich viel zu viele Textfragmente um die Befindlichkeiten von Simon und Maria in der Jetztzeit. Die Verliebtheit von Simon ging mir richtiggehend auf den Geist beim Lesen. Von Maria erfahren wir zudem einiges aus dem Privat-, Ehe- und Sexleben sowie aus deren Träumen (Nachtschlaf, nicht Hoffnungen). Warum ein Filmemacher seine eigenen Liebeleien aus der Ich-Perspektive heraus erzählt, in einer Dokumentenmappe mit Recherchematerial detailliert beschreiben und abheften sollte, ist fraglich. Genauso fraglich wie warum sich dort aus der personalen Erzählperspektive heraus geschriebene Nachtschlafträume von Maria (und all die anderen persönlichen Informationen) befinden sollten, die nichts zum eigentlichen Plot um Anton und Igor beitragen. Und das ist mein letzter Kritikpunkt: Ich hätte in diesem Roman einfach sehr gern viel mehr von Anton und Igor gelesen. Viel zu stark breitgetreten wird das Hier und Jetzt. Ganz zum Schluss kommt noch einmal richtig Spannung auf und ich las atemlos die Geschichte um Anton. Aber da fehlte mir zwischendrin einfach zu viel.

Somit komme ich zu dem Schluss, dass Heisenberg hier ein sehr interessantes Konzept vorgelegt hat, was aber noch Potential zur Ausarbeitung und Umgewichtung gehabt hätte. Ein guter Roman, den ich durchaus für eine Lektüre empfehlen kann, der entweder noch nicht ganz ausgereift ist oder den ich nicht vollständig verstanden habe, da vielleicht ganz gewiefte Schachzüge darin verwebt sind. Somit 3,5 Sterne von mir für dieses ambitionierte Werk.