Rezension

Komplexer Kriminalfall mit preußisch-bayrischem Ermittler

Der falsche Preuße - Uta Seeburg

Der falsche Preuße
von Uta Seeburg

Bewertet mit 5 Sternen

München, Königreich Bayern, 1894: Seit einem Jahr ist Hauptmann Freiherr Wilhelm von Gryszinski, seines Zeichens Sonderermittler und Brigade-Kommandant des Königlich Bayrischen Gendameriekorps, nun schon in München und muss sich dort vor allem mit den verschiedenen Möglichkeiten von Körperverletzungen mit dem Maßkrug herumschlagen. Seinen Tatortkoffer hat er bislang noch nicht zum Einsatz gebracht. Das ändert sich, als eine unbekannte Leiche in den Maximiliansanlagen an der Isar gefunden wird, mit zerschossenem Kopf und einem merkwürdigen Federumhang bekleidet. Zusammen mit seinem engagierten Team beginnt Gryszinski zu ermitteln und stößt bald auf den gebürtigen Preußen Lemke. Dieser ist wiederum auch für das Königreich Preußen von Interesse, und so findet sich Gryszinski unverhofft in der Doppelrolle als bayrischer Ermittler und preußischer Spion wieder…

Eine wunderbare, in herrlich schnörkeliger, antiquierter Sprache verfasste Geschichte und ein komplexer Fall! Obwohl der Schreibstil durchaus gehoben ist und sich aufgrund der teilweisen ungewöhnlichen Ausdrücke und Formulierungen nicht locker-flockig herunterlesen lässt, gewöhnt man sich schnell daran und taucht umso tiefer ein in einen ungewöhnlichen Fall mit faszinierenden Figuren und einem Ermittler, den es meines Erachtens so noch nicht gegeben hat. Die ganze Geschichte steckt voller merkwürdiger Dinge, Erfindungen und wundersamer Überraschungen, teilweise skurriler Charaktere und bemerkenswerter Innovationen. Der historische Hintergrund sowie die vielschichtig gezeichneten Figuren machen die Geschichte zu etwas sehr Besonderem, und die Autorin versteht es meisterhaft, diese Zeit aufleben zu lassen und Situationen, Menschen und Hintergründe authentisch und liebenswert darzustellen.

Mit dem Preußen in Bayern, Wilhelm von Gryszinski, prallen zwei Welten aufeinander, die sich in unterschiedlichen Szenen und Dialogen und nicht zuletzt in seiner Person manifestieren. Auf der einen Seite das Preußentum, geprägt von Zurückhaltung, Askese, Pünktlichkeit, Fleiß, militärischem Gehorsam und absoluter Loyalität, auf der anderen Seite die bayrische Gemütlichkeit, die Spezlwirtschaft, die Brauhausmentalität, das gute Essen. Niemand vereint all diese Eigenschaften besser als Hauptmann und Kommandant Gryszinski beziehungsweise weiß, wie sich das Beste aus beiden Welten herauszuholen lässt. Und dennoch gerät er mehrfach in Gewissenskonflikte, ist er doch sowohl in der Preußischen Tradition noch sehr verhaftet als auch der bayrischen Lebensart sehr zugeneigt. Er steht mehrfach vor der Entscheidung sich für eine Seite zu entscheiden, was ihm sichtlich schwerfällt. Zudem treibt ihn sein erster richtiger Mordfall mächtig um, anfangs wirkt er mitunter leicht überfordert, dann jedoch siegt sein (preußischer?) Stolz und Gerechtigkeitssinn, und trotz der bayrisch-preußischen Zwickmühle, in der er steckt, will er den Mord unbedingt aufklären. Sein Konflikt wird verstärkt durch den Hauptverdächtigen Eduard Lemke, ebenfalls von Geburt her Preuße, aber von sehr zweifelhafter Herkunft und zwielichtigem Charakter, und dem Auftrag des preußischen Gesandten, Lemke des Landesverrats zu überführen, was seiner Ansicht nach über dem eigentlichen Mordfall steht. Je tiefer Gryszinski in Lemkes skurrile Welt eindringt, umso mehr verschärft sich seine Zwickmühle. Bei der Aufklärung stehen ihm zum Glück seine eifrigen Mitarbeiter, der herrliche Urbayer Voglmaier mit seinen Spezln und Eberle mit seiner schwäbischen Verbissenheit zu Seite. Auch Amtsarzt Dr. Meyerlein trägt mit seinen Erfindungen und geradezu modernen Methoden sehr zu den Ermittlungen bei. Gryszinski scheut sich auch nicht, seine Haushälterin sowie seine beiden preußischen Freunde einzubinden und wird im Laufe des Falles mutiger und pfiffiger, verzichtet sogar zugunsten wichtiger Befragungen auf sein geliebtes deftiges Essen, reist in die eher ungeliebte Heimatstadt Berlin und erwehrt sich mehrerer Anschläge auf sein eigenes Leben. Man fiebert so sehr mit ihm mit, dass man eigene Überlegungen zum Fall fast vergisst.

Fazit: Herrlicher, gut konstruierter Kriminalfall aus dem alten München des 19. Jahrhunderts, mit liebenswerten Charakteren und einem Ermittler, der seines Gleichen sucht. Wer ist denn nun der „falsche Preuße“? Lemke, Gryszinski oder jemand ganz anderes? Dies ließ sich für mich nicht final klären, weist aber auf die beiden Welten hin, in denen sich die Hauptfiguren in dieser Geschichte bewegen. Die bildhaften Beschreibungen von historischem Umfeld und der Ermittlungsmethoden machen deutlich, in welch einer aufgeklärten Zeit der Innovationen Gryszinski ermittelt, wobei er zwischen Tradition und Moderne hin und her pendelt und doch nie seine Menschlichkeit und Empathie verliert. Ich wünsche mir, bald mehr von ihm zu lesen und kann es kaum erwarten, die lieb gewonnen Figuren wieder zu treffen!