Rezension

Lebensspuren...

Die Unschärfe der Welt - Iris Wolff

Die Unschärfe der Welt
von Iris Wolff

Bewertet mit 5 Sternen

Ein Treiben durch Worte, die gestochen scharfe Bilder erzeugen, die Zeit auflösen und einen beim Lesen wie durch Wasser gleiten lassen.

Iris Wolff erzählt die bewegte Geschichte einer Familie aus dem Banat, deren Bande so eng geknüpft sind, dass sie selbst über Grenzen hinweg nicht zerreißen. Ein Roman über Menschen aus vier Generationen, der auf berückend poetische Weise Verlust und Neuanfang miteinander in Beziehung setzt.

Hätten Florentine und Hannes den beiden jungen Reisenden auch dann ihre Tür geöffnet, wenn sie geahnt hätten, welche Rolle der Besuch aus der DDR im Leben der Banater Familie noch spielen wird? Hätte Samuel seinem besten Freund Oz auch dann rückhaltlos beigestanden, wenn er das Ausmaß seiner Entscheidung überblickt hätte? In »Die Unschärfe der Welt« verbinden sich die Lebenswege von sieben Personen, sieben Wahlverwandten, die sich trotz Schicksalsschlägen und räumlichen Distanzen unaufhörlich aufeinander zubewegen. So entsteht vor dem Hintergrund des zusammenbrechenden Ostblocks und der wechselvollen Geschichte des 20. Jahrhunderts ein großer Roman über Freundschaft und das, was wir bereit sind, für das Glück eines anderen aufzugeben. Kunstvoll und höchst präzise lotet Iris Wolff die Möglichkeiten und Grenzen von Sprache und Erinnerung aus – und von jenen Bildern, die sich andere von uns machen. 

 

Es gibt Romane, die einen in den Bann ziehen und die einen dann angesichts des Versuchs einer Rezension ein wenig verzweifeln lassen. Dies ist solch ein Roman.

Erzählt wird hier in 7 Abschnitten von - ja, und genau da beginnt das Problem. Präsentiert wird hier eine Familiengeschichte über zuletzt vier Generationen. Erzählt wird von dem Leben in einer Diktatur, in dem sich die dargestellten Charaktere nur kleine Freihheiten verschaffen können, die manchmal jedoch einen hohen Preis haben. Erzählt wird von Freundschaft und Liebe, Vertrauen und Verrat, Lebensträumen und Lebenszielen, von Stille und Natur, von einem fast vergessenen Landstrich, vom Zusammenbruch des Ostblocks, von lauten und leisen Revolutionen, und immer wieder vom Versuch, sich selbst und seinen Platz im Leben zu finden. Genauer fassen lässt es sich nicht, und der Titel 'Die Unschärfe der Welt' spiegelt sich dadurch für mich auch im Romangeschehen.

 

"Es gab Sehnsucht nach etwas, das sich nicht erfüllt hatte, Sehnsucht danach, etwas zu finden, und manchmal auch danach, etwas zu verlieren - und es bleibt immer etwas übrig, das du dir vorwerfen kannst..."

 

Jeder neue Abschnitt bedingt auch einen Wechsel der Perspektive, so dass im Verlauf 7 Charaktere im Mittelpunkt des Geschehens stehen. Doch auch wenn es zu Beginn eines Abschnitts zunächst oft so scheint, ist die jeweils dargestellte Episode nicht losgelöst von den vorherigen und nachfolgenden Erzählabschnitten, sondern verzahnt sich mit diesen zu einem Gesamtbild. 

Auch wenn die vier dargestellten Generationen womöglich eine zu viel waren - die Beschränkung auf drei Generationen hätte die Chance zu mehr Tiefe in der Darstellung der Charaktere geboten - gelingt es der Autorin, die Geschichte des Landes glaubhaft mit der Geschichte ihrer Charaktere zu verknüpfen. Ein melancholisches Bild, durchzogen von kleinen hoffnungsvollen Tupfern im Lebenslauf.
 

"Für Anfänge musste man sich entscheiden, Enden kamen von alleine, wenn man sich nicht entschieden hatte..."
 

Der Schreibstil ist es, der mich hier abgesehen von dem Aufbau des Romans am meisten fasziniert hat. Denis Scheck bezeichnet Iris Wolff als "Autorin mit einem traumsicheren Sprachgefühl" - und ja, das bringt es für mich auf den Punkt. An einer Stelle notirerte ich: "Ein Treiben durch Worte, die gestochen scharfe Bilder erzeugen, die Zeit auflösen und einen beim Lesen wie durch Wasser gleiten lassen." Und tatsächlich erzeugte die Lektüre phasenweise ein 'traumhaftes' Empfinden. Dabei zeichnet die Autorin in wenigen Linien ein wahrhaftiges Bild von den Charakteren, obschon diese stets auf Distanz zum Leser bleiben.
 

"Sie hatte sich gewünscht, frei von Verantwortung zu sein. Aber vielleicht war ein Leben ohne Verpflichtung das Gegenteil von Glück."
 

Für die Lektüre des Romans habe ich außergewöhnlich lange gebraucht - und ich kann nicht wirklich benennen, weshalb das so war. Es war in jedem Fall ein eindringliches Leseerlebnis, ich habe mir zahlreiche Zitate notiert, und tasächlich verspürte ich am Ende den Wunsch, den Roman bald noch einmal zu lesen. Das geschieht nicht oft. Iris Wolff hat bereits zahlreiche Preise für ihre Texte erhalten. Der Deutsche Buchpreis steht an, und ich freue mich, dass dieser Roman auf der Longlist steht. Da dieser Roman bei den bisherigen Rezensenten so gut ankommt, wird er vermutlich nicht den Buchpreis selbst erhalten - in meinen Augen scheinen die Gewinnertitel stets sperrig und/oder verstörend sein zu müssen - aber so fällt er zumindest einem breiteren Publikum ins Auge. 

Von mir gibt es jedenfalls eine uneingeschränkte Leseempfehlung.
 

© Parden