Rezension

Lesenswerte Romanbiographie, Warnung vor politischer Gewalt

Das hungrige Krokodil - Sandra Brökel

Das hungrige Krokodil
von Sandra Brökel

Bewertet mit 5 Sternen

Eine beeindruckende, stellenweise auch berührende, in jedem Fall lesenswerte Romanbiografie ist „Das hungrige Krokodil“ von Sandra Brökel (46), die im Februar im Pendragon-Verlag erschien. In ihrem Debütroman schildert uns die gelernte Schreib- und Trauertherapeutin die wahre Lebensgeschichte des tschechischen Arztes Pavel Vodák (1920-2002), die ein Beispiel für das Schicksal vieler Tschechen ist.

Es ist die Geschichte von Angst und Ohnmacht vor dem „hungrigen Krokodil“, eine Geschichte von der Angst vor diktatorischen Regimen oder allgemein vor der Autokratie der Mächtigen, die Ohnmacht vor dem gewaltigen und gewalttätigen Krokodil, das nur scheinbar ruhig und träge am Ufer liegt, tatsächlich aber seine Umgebung genau im Blick hat, um plötzlich und unerwartet nach Beute zu schnappen.

Das erste Mal kam der erst 19-jährige Medizin-Student Pavel Vodák dem Krokodil im Jahr 1939 zu nahe: Ohne Vorwarnung marschierten die deutschen Truppen in die Tschechoslowakei ein und besetzten Vodáks Heimatstadt Prag. Lebten dort zuvor Tschechen und Deutsche friedlich miteinander – Vodáks Mutter ist Deutsche –, wurden sie plötzlich zu Feinden. Bei Kriegsende wird die Tschechoslowakei von den Russen besetzt und unter Zwang zum Bündnisstaat der Sowjetunion. Das „Krokodil“ hat sich in einen russischen Bären verwandelt, der jeden Gedanken nach Freiheit und Selbstbestimmung in seinen mächtigen Pranken zerquetscht. In den Folgejahren ist das Krokodil nur scheinbar gesättigt und träge. Viele Tschechen, so auch Pavel Vodák, fassen neuen Mut und werden im „Prager Frühling“ aktiv. Und wieder schnappt das Krokodil zu, verschlingt 1968 nicht nur Menschen, sondern mit ihnen auch jede Hoffnung auf Freiheit und Selbstbestimmung.

Als Unterstützer der Reformbewegung steht Vodák, längst ein erfolgreicher und international anerkannter Psychiater sowie Chefarzt eines Kinderkrankenhauses, unter Beobachtung der Geheimpolizei. In dem Wissen, damit seiner 12-jährigen Tochter Pavli jede Chance auf ein Studium genommen zu haben, entschließt er sich, im Zuge einer Urlaubsreise mit Ehefrau, Tochter und krebskranker Schwiegermutter nach Jugoslawien, dem Krokodil über Italien und Österreich nach Deutschland zu entkommen. Seine Kontakte und seine fachliche Anerkennung ermöglichen ihm einen beruflichen Neustart in Nordrhein-Westfalen. Erst 1989 konnten auch die Menschen in der Tschechoslowakei das „hungrige Krokodil“ erfolgreich besiegen. Oder haben sie es nur vertrieben?

Gemeinsam mit Vodáks Tochter Pavli, die später in Deutschland wie ihr Vater Ärztin war, arbeitete Autorin Sandra Brökel die in einer alten Arzttasche gefundenen schriftlichen Erinnerungen des Vaters auf. In ihrem Buch geht es allerdings weniger um die Biografie des Arztes Pavel Vodák, sondern vielmehr um die Frage nach Heimat, um die Identität eines Menschen, um den Mut zum Widerstand, zum Kampf für die Freiheit und Selbstbestimmung, zum Kampf für die eigenen Ideale. Dazu passt das Zitat des tschechischen Schriftstellers und späteren Staatspräsidenten Vàclav Havel: „Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht.“ Pavel Vodák hat für die Flucht aus der Heimat mit Entwurzelung und Entfremdung zahlen müssen. Aber er und seine Familie bekamen damals einen kostbareren Gegenwert – körperliche und geistige Freiheit.

Gerade heute, in unserem politisch immer instabiler werdenden Europa, ist das Buch auch als Warnung zu lesen, als Aufruf zur Wachsamkeit. Denn wer die Augen verschließt, kann schon im nächsten Moment verschlungen werden. Das „hungrige Krokodil“, wie es Pavel Vodák in seinen schriftlichen Erinnerungen selbst genannt hat, kann überall auf Beute lauern.