Rezension

Michaela Kastel – Worüber wir schweigen

Worüber wir schweigen - Michaela Kastel

Worüber wir schweigen
von Michaela Kastel

Bewertet mit 5 Sternen

Wie froh sie war, nach der Schule einfach aus dem Kaff abhauen zu können. Doch nun, zwölf Jahre später, kehrt Nina zum ersten Mal zurück, denn sie muss etwas erledigen. Sie muss ihre ehemals beste Freundin Mel treffen und Tobias, den Bruder von Mels damaligem Freund Domi. Beide leben immer noch dort, Mel vor Depressionen kaum fähig das Haus zu verlassen, und Tobias, um seine Mutter in ihrer Trauer zu unterstützen. Nina war schon weggezogen als es passierte, doch nun weiß sie, dass das, was sie für die Wahrheit hielt, nur eine Geschichte war. Was wirklich geschah, will sie von Mel und Tobias hören.

 

Nachdem mich Michaela Kastel im letzten Jahr bereits mit „So dunkel der Wald“ überzeugen konnte, erfüllt auch ihr neuer Thriller „Worüber wir schweigen“ alle Erwartungen. Ich fand ihn zwar etwas weniger gruselig und nervenaufreibend als das Vorgängerwerk, dafür aber im Aufbau deutlich cleverer. Sie erzählt die Geschichte im Wechsel aus drei Perspektiven und zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Die Auswahl der Figuren verwundert zunächst, dass Nina und Tobias das Wort erhalten, liegt noch relativ auf der Hand, aber Ninas Vater als Erzähler scheint nicht wirklich Sinn zu machen. Warum genau er aber ein wichtiger Baustein für die Handlung ist, löst sich erst spät auf und enthüllt so die wirklich gelungene Konstruktion der Handlung.

 

Der Roman lebt vor allem davon, dass man als Leser einige Wissenslücken hat und zunächst vieles nicht richtig in Zusammenhang bringen kann. Auch die verschiedenen Zeitebenen und Erzähler müssen erst sortiert werden. Tatsächlich ist die Handlung überschaubar, die Geschichte lebt viel mehr von den Figuren. Ninas Familie wahrt den Schein nach außen, ist aber innerlich völlig zerrüttet. Die Mutter psychisch erkrankt kann sich nicht um das Mädchen kümmern, das schon früh ein auffälliges und zerstörerisches Verhalten zeigt. Gelegentlich richtet sich dies auch gegen andere, mehr aber noch schadet sie sich selbst damit und isoliert sich emotional. Auch der Vater ist schon lange nicht mehr daheim Zuhause. Die Ehe am Ende, zu der Tochter kann er keine Verbindung aufbauen und so flüchtet er sich wenig überraschend in eine Affäre.

 

Nina findet in Mel eine Verbündete, aber die Freundschaft war nie ausbalanciert. Wer die Wortführerin ist, war immer klar und so wie Nina Mel schon als kleines Mädchen zwingt, Dinge zu tun, die diese nicht möchte, hat sie auch keine Skrupel, sie als Jugendliche zu hintergehen. Auch Tobias leidet, nicht jedoch unter einem Freund, sondern unter seinem älteren Bruder, dem er so gar nicht das Wasser reichen kann. Auch dessen Beziehung mit Mel, die einen mäßigenden Einfluss auf ihn hat, ändert nichts grundlegend an dem schwierigen Verhältnis der beiden.

 

Viele niedergeschlagene Seelen, die alle gute Gründe für ihr Handeln haben und nicht ahnen, wie sich ihre eigenen Enttäuschungen und Rachegelüste in ein grausames Räderwerk fügen, das sich, nachdem der erste Stein ins Rollen gebracht wurde, nicht mehr aufhalten lässt. Es ist die Tragik des Unvermögens, über den eigenen Horizont blicken und die Folgen abschätzen zu können, die sie schuldig macht.

 

Mit diesem wohl durchdachten Mechanismus, wie die einzelnen kleinen Handlungen ineinandergreifen und letztlich zu einem schlimmen Ende führen, hat Michaela Kastel eindrucksvoll unterstrichen, welches Talent in ihr schlummert. Sie braucht kein Blut und keine bestialischen Mörder, sondern kann den Thrill durch die ganz normalen Menschen entstehen lassen und holt das Grauen so in den Alltag. Dies finde ich deutlich schwerer literarisch umzusetzen, als blutrünstige Szenen zu beschreiben, die per se beim Leser Gänsehaut auslösen. Daher ganz klar eine unbedingte Leseempfehlung für diesen Roman.