Rezension

Nächte mit leisen Worten in der Dunkelheit

Unsere Stimmen bei Nacht -

Unsere Stimmen bei Nacht
von Franziska Fischer

Nächte mit leisen Worten in der Dunkelheit

„Manchmal fand Lou das, was Menschen nicht erzählten, sehr viel interessanter, als das, was sie tatsächlich sagten.“

Lou-Ann Weber mietet das letzte freie Zimmer in der kleinen Villa des Ehepaares Gloria und Herbert Sobrowski in Berlin, wo bereits der alleinerziehende Professor Gregor Mader mit seiner Tochter Alissa und der Student Johann „Jay“ leben. Mit der offenen und selbstbewussten Lebenskünstlerin Lou ist die kleine Wohngemeinschaft schließlich komplett. Während der Hausbesitzer Herbert und der Chemieprofessor Gregor Abweichungen in ihrem gewohnten Alltag ablehnend gegenüberstehen, sind Jay und Lou regelrechte Freigeister: spontan, neugierig, voller Fragen und an ihren Mitbewohnern interessiert. Und obgleich die Lebenspläne, die Vorstellungen und die Alltagsroutine dieser völlig gegensätzlichen Menschen in keiner Weise übereinstimmen, entsteht aus dieser ungewöhnlichen Gemeinschaft dank der unkonventionellen Lou als Bindeglied schließlich eine richtige kleine Wahlfamilie. Gemeinsame Mahlzeiten fungieren als Basis für interessante Gespräche, entspanntes Chillen im Garten und tiefsinniger Gedankenaustausch in schlaflosen Nächten erzeugen eine zusätzliche emotionale Bindung zwischen den Hausbewohnern.

„An manche Menschen musste man sich sehr langsam herantasten, jede Person hatte einen eigenen Rhythmus, ihr eigenes Tempo, um ihre Lebensgeschichte zu teilen.“

Diese Neuerscheinung der mir bislang unbekannten Autorin Franziska Fischer hat meiner hohen Erwartungshaltung in jeder Hinsicht entsprochen. Sowohl der einzigartige und wunderschöne Schreibstil der Autorin, als auch die starken Emotionen und tiefgründigen Gedanken machten diesen Roman zu einer herzerwärmenden Lektüre. Es gibt Bücher, die mich als Leser tief berühren und unter die Haut gehen. „Unsere Stimmen bei Nacht“ ist eines davon – eine erlesene kleine Perle, die mich vollständig in den Sog ihrer Geschichte zog und mir durch die poetische Sprache, durch kostbare und wohlformulierte kluge Lebensweisheiten und Gedanken außergewöhnlichen Lesegenuss bescherte.

Die Handlung selbst wird weder von Spannung, noch aufregenden Höhepunkten beherrscht. Es handelt sich vielmehr um ein leises, unaufdringliches Buch, das seine Magie auf vielfältige Weise entwickelt. Und zwar durch kleine, aber wichtige Episoden im Alltag dieser sechs Protagonisten, die detailliert und liebevoll beschrieben werden und das Buch zu einem Leseerlebnis machten, das ich nicht mehr missen möchte. Franziska Fischer bedient sich hervorragend ausgearbeiteter Charaktere und schreibt von dem Bestreben eines jeden Einzelnen, seinen Weg zu finden, tiefsten Wünschen und Sehnsüchten Ausdruck zu verleihen und den Mitbewohnern nach und nach Einblick in seine ganz persönliche Lebensgeschichte zu gewähren.

„Sie waren eine merkwürdige Gruppe an Menschen, dachte Lou. Alle zusammen in dieses Haus geschüttet, und manchmal war es so, als gäbe es keine Außenwelt mehr, nur sie, sechs Personen, die einander genug sein mussten.“

Sowohl die hochwertige Aufmachung, als auch Optik und Haptik dieses Buches sind bemerkenswert. Eine in bunte Farben getauchte Abbildung mehrerer Äpfel auf dem tiefschwarzen Einband zieht den Blick des Betrachters unweigerlich auf sich. Der Buchtitel wurde in stark kontrastierendem Weiß gedruckt, der dunkle Hintergrund und die etwas dezentere Einbringung des Verlags- sowie des Autorennamens sowie ein rotes Lesebändchen vervollständigen das edle Erscheinungsbild.

Franziska Fischers Roman offenbart seinen Inhalt ganz behutsam und langsam. Es handelt sich um eine Erzählung, die den Leser dazu auffordert, sich vollständig ins Geschehen hinein zu begeben, die ihre Geheimnisse nur nach und nach Preis gibt und nicht mit einer Fülle von Informationen überquillt, sondern vielmehr mit leisen Andeutungen arbeitet. Das Unausgesprochene, das in vielen Familien im Raum steht, spielt hier die Hauptrolle. Die Antwort auf etliche Fragen findet sich zwischen den Zeilen, findet sich in den wechselnden Perspektiven und in den Erzählungen der einzelnen Figuren. „Unsere Stimmen bei Nacht“ ist ein sehr ruhiges, leises Buch, das dem Leser in eindringlichen Worten und mit zahlreichen, teilweise emotionalen Details, die Lebensgeschichten seiner Figuren erzählt. Mir hat die bedächtige Art, die Vergangenheit aufzurollen, überaus zugesagt und ich wurde auf diese Weise immer vertrauter mit Gloria, Herbert, Gregor, Alissa, Jay und Lou. Es werden nicht nur innere Konflikte, sondern auch tief zurück liegende Verletzungen innerhalb der Familie und des Freundeskreises aus der Vergangenheit zur Sprache gebracht, und keine der handelnden Personen bleibt davon unbeeinflusst.

„Manchmal ist jeder Schritt eine Geschichte, jedes Lachen eine Erzählung, jedes Wort ein Roman.“

Fazit: „Unsere Stimmen bei Nacht“ war mein erstes, aber mit Sicherheit nicht mein letztes Werk dieser Autorin. Die ruhige, unaufgeregte und behutsam erzählte Geschichte bietet dem Leser weder turbulente Höhepunkte, noch hohe Spannungsmomente, wartet dafür aber mit einem außergewöhnlichen Schreibstil, tiefen Emotionen und einer Vielzahl kluger Gedanken und Lebensweisheiten auf. Franziska Fischer beschreibt in poetischen Worten das gemächliche gegenseitige Kennenlernen und Annähern völlig konträrer Charaktere. Dieser beeindruckende Roman war für mich eine ganz besondere Lektüre. Es ist ein leises Buch, das lange nachwirkt, mit handelnden Figuren, die man nicht so rasch wieder vergisst, deren Geschichte die Gedanken des Lesers auch noch über das Zuschlagen der letzten Seite hinaus beschäftigen. Das Buch hat meinem persönlichen Lesegeschmack in jeder Hinsicht entsprochen und ich möchte dieses kleine Highlight ganz besonders Menschen, die ruhige und tiefgründige Bücher lieben, ans Herz legen.