Rezension

Nichts für mich

Inniger Schiffbruch - Frank Witzel

Inniger Schiffbruch
von Frank Witzel

Zwei Monate nach dem Tod seines Vaters hat der Erzähler einen Traum, in dem er in das verlassene Elternhaus geht und dort auf ein völlig abgemagertes Rhinozeros trifft. - Hm. Was soll das werden - Surrealismus?

Im nächsten Abschnitt wird diese Traumsequenz der Realität gegenübergestellt, und das Nashorn scheint "in seiner aufdringlichen Symbolik einem billigen Ratgeber zur Deutung von Träumen entstiegen". - Aha. Und nun?

Nun wird heftigst assoziiert: Das Theaterstück von Ionesco, eine Erzählung von Bertrand Russell, der in einem Gespräch mit Wittgenstein ein Rhinozeros erwähnt, und schließlich der ungläubige Thomas. - Geht es um Phantasie und Wirklichkeit, um die Beweisbarkeit  der Realität, um Wahrheit und ihre Konstruktion? Was auch immer: Schon nach drei Seiten habe ich genug von diesem Buch. Ich kann mich nicht auf den Inhalt einlassen, denn diese Art des Schreibens schmeckt mir zu viel nach Angeberei: Seht her, was ich alles weiß!

Und in diesem Stil geht es weiter: Ausgehend von den Hinterlassenschaften der Eltern wie z.B. Kalendernotizen des Vaters oder aussortierten Fotos werden Erinnerungen wach, die weitschweifend erzählt werden und frei assoziierend in alle Richtungen laufen. Das erinnert manchmal an eine Psychoanalyse, und tatsächlich wird auch zwischendurch geschildert, wie sich der Erzähler auf die Couch seiner Therapeutin legt. Und manche dieser Bilder wecken auch ähnliche Erinnerungen bei mir, die ich etwa in Witzels Alter bin und auch eine Kindheit im katholisch geprägten Milieu durchlebt habe. So sind manche dieser Erinnerungen stark und eindrucksvoll. Aber leider werden sie für mich zu oft in ein Schwadronieren, Labern, Faseln überführt, das dann wieder mit mehr oder weniger dezenten Hinweisen auf eindrucksvolle Lektüre gespickt wird. Wenn ich mich gerade auf eine emotionale Nähe einlassen kann, wird garantiert gleich intellektualisiert und für mein Gefühl leider angegeben. Brrr!

Die Umschlagseite verspricht "Das neue große Werk des deutschen Buchpreisträgers" - wenn das groß ist, bin ich zu klein, um es zu aufzunehmen. Und "Der Erzähler in Frank Witzels Roman verwebt die losen Enden der eigenen Familiengeschichte mit der Geschichte der BRD": Ja, tut er das? Das ist an mir vorbeigegangen. Wir erfahren einiges von der Jugendzeit des Vaters am Ende des Nationalsozialismus; die Erlebnisse der Mutter bei ihrer Vertreibung aus Polen werden nur angedeutet, denn auch sie hat sie nie erzählt. Der Autor betreibt keine aktive Spurensuche, um die Erfahrungen der Eltern nachvollziehen zu können, wie das in letzter Zeit schon mehrere Autoren getan haben. Lose Enden werden da nicht verwebt. Eine Entwicklung über die Jahrzehnte wird mir nicht deutlich, zu sprunghaft ist die Darstellung. Und die Verbindung mit der Geschichte der BRD hat sich mir nicht erschlossen; ich finde nur Bilder aus den 60er und 70er Jahren, die für mich beziehungslos stehenbleiben. 

Ja, es gibt einige starke Szenen, die mich anrühren. Aber das trägt mich nicht über das ganze Buch. Witzel beschreibt seine Schreibhemmungen und die Schwierigkeiten, etwas zu Papier zu bringen, und füllt damit ein ganzes Buch. Für mich hätte er es bleiben lassen können. Um auch einmal ein bisschen anzugeben: si tacuisses... Hätte er doch besser geschwiegen. Aber ehrlicherweise muss ich zugeben, dass es natürlich auch an mir als Leser liegen kann. Denn dieses Buch steht auf der Nominierungsliste zum Deutschen Buchpreis 2020 und hat demnach die Jury überzeugt; es gibt auch einige sehr lobende Rezensionen. Also dann: Für mich ist es nicht das richtige Buch, und für dieses Buch bin ich die falsche Leserin.

Kommentare

FIRIEL kommentierte am 21. September 2020 um 21:16

Noch ein Zitat (S. 217): "Diese zufällige Aneinanderreihung von Fakten, mit ihren Implikationen und seltsamen Konsequenzen, ... erweckte einen leichten Schwindel in mir..."

Allein dieser Satz, der sich im Original übrigens über mehr als elf Zeilen erstreckt, kann auch mein Gehirn in Rotation versetzen...

wandagreen kommentierte am 21. September 2020 um 23:02

Quatsch, Firi. Du bist genau die richtige Leserin. So schreibt Witzel. und sein erstes Buch war ebenso. Gut, das erste: da war das noch innovativ. Aber noch mal so was zu schreiben ist eine Zumutung und die Jury unterliegt einem intellektuellen Irrtum oder hat sich blenden lassen.

 

villamirka kommentierte am 23. September 2020 um 00:03

Ich habe das Buch nach einem Drittel abgebrochen, bin wohl auch die falsche Leserin ;). Deine Rezension trifft es genau. Ich hätte es nicht so gut in Worte fassen können. Schade, dass es zur Longlist keinen Kommentar der Jury zum jeweiligen Buch gibt, hätte mich interessiert.

katzenminze kommentierte am 05. November 2020 um 10:55

Oje, oje, das klingt anstrengend! Zum Glück habe ich es mir gespart.