Rezension

Nichts für schwache Nerven!

Sternenfeuer 01 : Gefährliche Lügen - Amy Kathleen Ryan

Sternenfeuer - Gefährliche Lügen
von Amy Kathleen Ryan

*Worum geht's?*
Waverly und Kieran gehören zu der ersten Generation, die auf der "Empyrean" - einem Raumschiff auf dem Weg zu einem neuen, bewohnbaren Planeten - geboren wurde. Jeder auf dem Schiff erwartet von ihnen, dass sie schnellstmöglich heiraten und für neuen Nachwuchs sorgen. Die beiden Verliebten wissen, dass sie zusammengehören, aber sind sie mit ihren jungen fünfzehn und sechzehn Jahren wirklich schon so weit? Zeit, darüber nachzudenken, bleibt ihnen nicht, denn die "Empyrean" wird von einem anderen Raumschiff, der "New Horizon", angegriffen. Ohne Rücksicht auf Verluste töten die Fremden jeden Erwachsenen, der ihnen in den Weg kommt. Sie haben nur ein Ziel: Die fruchtbaren Mädchen auf ihr eigenes Schiff zu entführen, auf dem es keine Kinder mehr geben kann. Kaum sind Waverly und die anderen Mädchen verschwunden, müssen die Jungen auf der "Empyrean" feststellen, dass auch alle Erwachsenen während des Rettungsmanövers im All verschwunden sind. Kieran versucht, die Ordnung auf der "Empyrean" wiederherzustellen, um sich so schnell wie möglich auf die Suche nach den Mädchen - nach Waverly - zu machen, doch sein Rivale Seth legt ihm Steine in den Weg. Währenddessen erlebt Waverly auf der "New Horizon" den puren Horror: Die gesamte Besatzung hat es nur auf ihre Fruchtbarkeit abgesehen und sehnt sich nach Nachwuchs. Verzweifelt plant sie einen Fluchtversuch, doch sie bekommt nur wenig Unterstützung von den anderen, die voll und ganz auf die Lügen der "New Horizon" hereinfallen. Und die Erwachsenen? Von ihnen fehlt jede Spur...

*Kaufgrund:*
Nach "Godspeed - Die Reise beginnt" konnte mich nichts davon abhalten, auch Amy Kathleen Ryans Buchreihe um eine Reise auf einen neuen Planeten zu lesen. "Sternenfeuer: Gefährliche Lügen" sollte mir jedoch schnell beweisen, dass es nicht mit "Godspeed" zu vergleichen ist...

*Meine Meinung:*
Willkommen auf der "Empyrean"! Seit 42 Jahren schon ist dieses Raumschiff auf der Reise nach "New Earth", der neuen Erde, um dort mit der Besatzung ein neues Leben zu beginnen. Das zweite Schiff, die "New Horizon" ist bereits ein Jahr länger unterwegs und sollte während des Fluges eigentlich nie auf die "Empyrean" stoßen, doch sie bremsten ihre Geschwindigkeit rapide ab, um ein Treffen zu ermöglichen. Der Grund: Die gesamte weibliche Besatzung der "New Horizon" ist unfruchtbar und kann keine Kinder gebären, die sich in der nächsten Generation um das Raumschiff bemühen könnten. Auch auf der "Empyrean" gab es dieses Problem, aber die Forscher haben eine Lösung gefunden - und sie nicht weitergegeben. In völliger Verzweiflung um ihre eigene Existenz weiß die "New Horizon" sich nicht weiter zu helfen, als die Mädchen der "Empyrean" gewaltsam zu entführen. Ein mitreißendes und aufregendes Abenteuer beginnt: Während die Jungen auf der "Empyrean" alles versuchen, um die "New Horizon" wiederzufinden, planen die Mädchen auf der "New Horizon" eine schier unmögliche Rettungsaktion.

Wer auch immer für die Altersempfehlung zuständig war, hat hier einen großen Fehler gemacht. Allein die Entscheidung, "Sternenfeuer: Gefährliche Lügen" in die Kategorie der Jugendbücher einzustufen, ist in meinen Augen nicht nur falsch, sondern eine "gefährliche Lüge"! Denn dieser Roman hat es in sich und ist sicherlich nichts für schwache Nerven oder jüngere Leser. Kinder werden misshandelt, etliche Erwachsene werden brutal ermordet und Jugendliche werden entführt und eingesperrt. Ryan nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn sie diese gewalttätigen Szenen beschreibt, und schafft es mit Leichtigkeit, uns einen Schauer über den Rücken zu jagen. Es ist beängstigend und beeindruckend zugleich, wie realistisch die Autorin vorgegangen ist - eine Geschichte wie die ihre würde ohne Gewalt nicht funktionieren, nicht packen, nicht glaubwürdig erscheinen. Über das Ausmaß, das sie gewählt hat, lässt sich mit Sicherheit streiten. Ich für meinen Teil bin überwältigt von "Sternenfeuer: Gefährliche Lügen", möchte es aber nur an hart gesottene Gemüter weiterempfehlen...

...Denn es kommt noch extremer! Die explizite Darstellung der physischen Gewalt ist ihr bereits erschreckend genial gelungen, aber die psychische Quälerei in Ryans Roman stellt alles andere in den Schatten: Vergewaltigung von Minderjährigen, Nötigungen, geistige Folter, Gehirnwäschen und sogar das Stockholm-Syndrom kommen vor. Was geschieht mit einem Kind, wenn es vom eigenen Vater tagtäglich geschlagen wird und nie Anerkennung bekommt? Was geht in einer Horde kleiner Jungen vor, die plötzlich völlig auf sich allein gestellt ein Raumschiff steuern müssen? Wie geht man damit um, wenn vor den eigenen Augen die Eltern ermordet werden? Ryan hat auf diese Fragen authentische Antworten gefunden und nicht gezögert, als es darum ging, sie in ihren Roman zu integrieren. "Sternenfeuer: Gefährliche Lügen" ist ein grausiger Psycho-Horror, der Mark und Bein gefrieren lässt. Wer starke Nerven hat, wird von diesem Buch in jeglicher Hinsicht begeistert sein, denn Ryan hat diese schwierigen Themen perfekt in ihre Geschichte eingebaut. Ansonsten kann ich nur erneut warnen: Sanfte Leser werden an "Sternenfeuer: Gefährliche Lügen" keinen Spaß haben!

Ryans Debüt ist in sechs Abschnitte unterteilt. Der erste Teil beschäftigt sich noch mit beiden Protagonisten zugleich und ihrer Beziehung zu einander. Schon hier wird deutlich, dass die heile Welt bloß ein Schein ist. Doch wie schlimm die Realität in Wirklichkeit ist, hätte sich niemand jemals zu träumen gewagt. Ab dem zweiten Teil trennen sich die Wege von Waverly und Kieran. Während Kieran auf der "Empyrean" für Ordnung sorgen muss, muss sich Waverly auf der "New Horizon" wahren Schrecken stellen. Der auktoriale Erzähler wechselt abschnittsweise zwischen Waverly und Kieran hin und her, sodass man als Leser tiefe Einblicke in die Geschehnisse auf beiden Schiffen erhält. Die Spannung, die durch die Ungewissheit im ersten Teil bereits angestachelt wurde, steigert sich bis zur allerletzten Seite und lässt einen nicht mehr los! Immer dann, wenn man denkt, den grausamen Höhepunkt von "Sternenfeuer: Gefährliche Lügen" überwunden zu haben, wird man noch einmal von der Handlung überwältigt. Ryan hat wahrlich alles aus ihrer Feder herausgeholt, was in ihrer Macht stand, um ihren Lesern ein spektakuläres Sci-Fi-Abenteuer zu liefern. Nach so einem atemberaubenden Start erscheint es mir fast unmöglich, dass sich Ryan nochmals steigern könnte.

Waverly und Kieran sind das Protagonistenpärchen in diesem Serienauftakt und sorgen für die stimmige Portion Romantik, die sich allerdings still im Hintergrund des Geschehens abspielt. Die beiden sind sich (mehr oder weniger) sicher: Wir gehören zusammen! In den meisten Angelegenheiten sind sie sich einig, in fast allen anderen ergänzen sie sich hervorragend. Niemand zweifelt daran, dass sie einmal heiraten werden. Auch als Leser wünscht man sich eine positive Zukunft für die beiden. Doch dann werden Waverly und Kieran getrennt und müssen, jeder auf sich allein gestellt, viele schreckliche Sachen erleben. Kieran reift daran nach und nach zu einem verantwortungsbewussten Mann heran, lernt zu kämpfen und über seinen eigenen Schatten zu springen. Währenddessen wird aus der braven und ehrlichen Waverly eine knallharte Rebellin, die alle Hemmungen verliert, um ihrem Ziel, der Flucht, näher zu kommen. Die Dinge, die sie erleben muss, brechen sie und zwingen das traumatisierte Mädchen dazu, sich von Grund auf zu neu entwickeln. Waverly und Kieran sind einander auch in weiter Ferne der größte Hoffnungsschimmer. Ihre Liebe ist es, die ihnen Mut und Kraft schenkt und sie vorantreibt. Doch ob ihre Liebe all diese Grausamkeiten überstehen kann, ist unklar...

Auf zwei riesigen Raumschiffen tummeln sich eine Vielzahl von Menschen. Hier den Überblick zu behalten, ist kaum möglich - aber auch nicht nötig! Ryan konzentriert sich auf die zwei Protagonisten Waverly und Kieran und hat sich nur ein paar wenige Nebenfiguren aus der Masse herausgepickt, die von ihr näher beleuchtet werden und tragende Rollen spielen. Pastorin Mather von der "New Horizon" oder Kierans Rivale Seth zum Beispiel gehören dazu und wenden die Handlung an einigen Stellen grundlegend. In "Sternenfeuer: Gefährliche Lügen" sind die Nebenfiguren also kein Mitteln zum Zweck, sondern Schlüsselcharaktere, die mindestens ebenso wichtig sind wie die Protagonisten. Ryan lässt sie zudem nicht einfach handeln, sondern macht durch die prägende Vergangenheit der einzelnen Personen deutlich, wieso sie solch schwerwiegende Entscheidung treffen.

Ryan besitzt ein unglaubliches Talent dafür, die Gefühle ihrer Figuren auf den Leser zu projizieren. Geraten die Charaktere in Panik, wird man selbst nervös. Fürchten sie sich, bekommt man selbst eine Gänsehaut. Werden sie wütend, erwischt man sich selbst dabei, wie man das Buch plötzlich kräftiger in den Händen hält. Durch Ryans empathischen Schreibstil erlebt man "Sternenfeuer: Gefährliche Lügen" so intensiv wie kaum ein anderes Buch! Dieser Roman packt einen nicht nur; es ist nicht das typische "Mitgerissensein", das uns hier fesselt. Ryan drängt uns dazu, mitzufühlen und völlig in die Geschichte einzutauchen. Zeit und Raum spielen keine Rolle mehr, wenn man sich erst einmal zwischen den Seiten verloren hat. "Sternenfeuer" liest man nicht - man spürt es!

Religion spielt in diesem Buch eine wichtige Rolle. Vor 43 Jahren, als die "New Horizon" sich auf die Reise machte, wurde ihre Besatzung aus religiösen Menschen zusammengesetzt, um durch den Glauben einen Zusammenhalt zu schaffen. Auf der "Empyrean" ist dagegen kaum jemand gläubig. Wie groß die Macht des Glaubens ist, beweist Amy Kathleen Ryan auf zwei Weisen: Waverly bekommt auf der "New Horizon" zu spüren, welche Grausamkeiten der Glaube hervorrufen kann. In der festen Überzeugung, Gottes Willen zu befolgen, vergessen die Menschen, selbst nachzudenken. Kieran dagegen nutzt den Glauben, um den Jungen auf der "Empyrean" neuen Mut zu vermitteln. Doch auf der "New Horizon" sollte der Glaube einst nur Hoffnung schenken...

Amy Kathleen Ryan schafft in ihrem Debüt eine für uns nicht nachvollziehbare Welt in der Zukunft. Die Autorin ist sich sehr wohl darüber im Klaren, wie schwierig es für uns sein muss, sich ein Leben auf einem Raumschiff vorzustellen. Deshalb lässt sie viele Informationen in die Unterhaltungen der Charaktere einfließen: Wieso musste die Erde verlassen werden? Wie funktioniert das Leben auf einem der Schiffe? Wie wird es in Stand gehalten? Ryan lässt uns keinesfalls mit unserem Unwissen allein. Stattdessen teilt sie ihre Ideen und Vorstellungen mit uns, wodurch es uns mit ein wenig Fantasie möglich ist, uns ein eigenes Bild von dem Leben zu malen. Sie begeht nicht den Fehler, uns mit einer oberflächlichen Idee zu konfrontieren. Vielen Dank dafür, Frau Ryan!

*Cover:*
Schlicht, schick und - ich kann es kaum fassen! - ohne ein Mädchen darauf. Es ist ein schönes Cover, darüber muss man sich wohl kaum streiten. Trotzdem kann es mich nicht überzeugen. Es wird dem Inhalt zwischen den Buchdeckeln nicht einmal ansatzweise gerecht!

*Fazit:*
Mit dem Auftakt in ihre Trilogie ist der Autorin ein überwältigendes Buch gelungen, das einem die Sprache verschlägt. Mit knallharter Brutalität und einer gewaltigen Portion Psycho-Horror ist "Sternenfeuer: Gefährliche Lügen" nichts für schwache Nerven - aber definitiv ein Must-Read für alle anderen! Für ein Buch, das auch nach dem Lesen im Kopf bleibt, gibt es volle 5 Sterne.