Rezension

Orient und Okzident

Die Straße der Geschichtenerzähler - Kamila Shamsie

Die Straße der Geschichtenerzähler
von Kamila Shamsie

Bewertet mit 3 Sternen

Dieses Buch fängt wunderhübsch an. Man denkt, man liest eine Liebesgeschichte zwischen Orient und Okzident. 1915, Vivian Rose Spencer, Tochter aus gutem, englischen Hause, viel zu klug für eine Frau und sehr interessiert am Altertum, verliebt sich in einen türkischen Archäologen.
Die Liebesgeschichte verläuft aber mit Beginn des ersten Weltkriegs im Sand und ist eigentlich nur der Anlass dazu, dass es Vivian nach Indien verschlägt und dass sie einen Traum verfolgt: Wo ist der Stirnreif des legendären Skylax geblieben?

Parallel lernt man Qayyum kennen, der Inder ist und mit seinen Kameraden die Engländer im Krieg unterstützen will. Anfangs ist er sehr begeistert vom ungewohnten europäischen Leben, muss aber feststellen, dass man als Inder in Europa nur theoretisch geachtet wird.
Dagegen erlebt Vivian in Peschawar, welche Grenzen dort Frauen gesetzt sind.

Das ist auch sehr spannend. Die Sicht eines Inders auf den ersten Weltkrieg, die krassen Kulturunterschiede, die Stellung der Frauen hier und da, Kampf um das Frauenwahlrecht einerseits und die Verpflichtung zum Tragen einer Burka in der Öffentlichkeit andererseits, aber auch hier gibt es wieder einen Schnitt.
Man findet sich wieder in Perschawar 1930, wo Ghandis Doktrinen Fuß gefasst haben und es auf der Straße der Geschichtenerzähler zu einem furchtbaren Massaker kommt. Selbst darauf hätte ich mich noch sehr gerne eingelassen, wenn nicht die Geschichte an dieser Stelle komplett zerfasern würde.
Vivian und Qayyum werden nebensächlich. Stattdessen verfolgt man ausführlich, wie Qayyums Bruder und zwei indische Frauen in die Kampfhandlungen verwickelt werden.

Es steckt sehr viel Interessantes und Brisantes in diesem Buch. Besonders der Einblick in die indische Mentalität ist sehr spannend. Allerdings hatte ich beim Lesen zunehmend das Gefühl, hier fehlt ein roter Faden. Viele spannende Themen werden aufgegriffen, aber nicht zu Ende erzählt. Wenn Ghandis Aufruf zu gewaltlosem Protest gegen die englische Vorherrschaft zu einem tragischen Massaker führt, möchte ich auch lesen, wie es danach weiter ging. Dabei ist nicht die einzig interessante Frage, ob Najeeb überlebt hat oder nicht.

Das einzig verbindende Element ist der Stirnreif des Skylax, dessen Verbleib man über Jahrhunderte hinweg beobachten kann. Natürlich hat das einen gewissen Reiz, aber in diesem Buch stecken so unendlich viele spannende Themen, die mich sehr viel mehr interessiert hätten.
Man kann dieses Buch als Streifzug durch ein Stückchen englisch-indische Geschichte ansehen, aber irgendwie sind die Gewichte ein bisschen verrutscht.