Rezension

Realistisches Australienbuch

Nur eine Ohrfeige - Christos Tsiolkas

Nur eine Ohrfeige
von Christos Tsiolkas

Bewertet mit 4.5 Sternen

Christos Tsiolkas. Wer zum Teufel ist das? Zumindest literarisch bekommt der geneigte Leser Auskunft. Im vergangenen Jahr haben mich vom Klett Cotta Verlag schon die grandiosen Romane von Silvia Avallone und Lauren Grodstein positiv überrascht, mit Christos Tsiolkas Gesellschaftsroman „Nur eine Ohrfeige“ toppt der Verlag meine Erwartung noch. Dafür ziehe ich, den virtuellen Hut.

Schlicht gesagt, geht es in dem Buch um eine Ohrfeige, die ein Erwachsener, dem kleinen Hugo verpasst, einer monströsen kindlichen „ich“-Maschine, die von einer labilen Mutter groß und größer gesäugt wird. Das ganze geschieht, während eines belanglosen Grillfestes in einem der sterilen Vororte Melbournes. Mein Haus, mein Auto, mein Job, meine Vorzeigefamilie, darüber definieren sich die unterschiedlichsten Ethnien im Schmelztiegel Australien und richten sich in ihrer Langeweile ein. Da kann so eine lapidare Ohrfeige schon Risse in den Putz des modernen Mittelschichtbürgers sprengen.

Erzählt wird die Geschichte aus acht verschiedenen Perspektiven. Der Hausherr Hector, passives Muttersöhnchen, verbeamteter Frauenschwarm in der Midlife Crises ansonsten viriler Allesvögler ist stoned, als das Ereignis eintritt, scharf auf eine anwesende Minderjährige und versucht nicht auf das Minenfeld zu treten, dass sich zwischen seiner Mutter seiner indischen Ehefrau auftut. Immerhin verschafft ihm seine griechische Abstammung die Möglichkeit einmal eindeutig Stellung zu beziehen. Der Täter muss unschuldig sein, er stammt aus der eigenen Familie. Für Anouk, eine toughe Schreiberin für schwachsinnige Fernsehserien und Jungmannschwäche ist die Sache schon komplizierter. Eigentlich will sie lieber den Roman ihres Lebens schreiben. Eigentlich will sie Klartext mit Hugos Mutter sprechen, wenn die Freundschaftsbande dreier Frauen nicht ihren Verständnistribut einfordern würden.

Harry, der hitzige Ohrfeigenverteiler, ist erfolgreicher Geschäftsmann und Macher kann es nicht fassen, wegen einer lächerlichen Backpfeife vor den Richter ziehen zu müssen. Was kann er für Rosies verzogene Göre? Das ausgerechnet Er, der unsozialste, die Morallawine los tritt ist folgerichtig. Connie, Kindermädchen der kindlichen „ich“- Maschine träumt den Traum aller Heranwachsender von der besten Party der Stadt und dem coolsten Typen, des Universums. Es ist kein leichtes Los in dem Alter zu sein, schon gar nicht ohne die verstorbenen Eltern, die keine Richtung, keinen Halt mehr geben können. Egal, in dieser Vorstadthölle übernehmen die Teenager, die eigene Erziehung, von Drogen benebelt, gleich mit. Ihre Arbeitgeberin Rosie lässt es zum Äußersten kommen, den Gerichtsprozess gegen Harry. Was einmal so schmerzvoll aus ihrem Unterleib gefahren kam, gebührt der Aufmerksamkeit einer hingebungsvollen Mutter, die allerdings mit einigen charakterlichen Schönheitsfehlern ausgestattet ist, welche nicht ganz unschuldig an dem Geschehen sind.

Manolis, Hectors Vater, betrachtet das Leben aus dem Blickwinkel eines mit sich hadernden Rentners, dessen beste Zeit schon weit zurück liegt. Irgendwie hat sich die Welt verändert, Freunde sterben weg. Alte Gewissheiten geraten ins Wanken. Vielleicht hätte er weniger Kompromisse machen sollen, sicher sogar. Zeit für Ordnung zu sorgen. Er startet einen Vermittlungsversuch. Das erwachsene Menschen, die ihr Geld als Ärzte und Geschäftsleute verdienen, nicht in der Lage sind eine Lappalie in Sekundenschnelle aus der Welt zu bringen, wenn der Qualm der ersten Ärgers einmal verraucht ist, kann er nicht glauben. Aisha, Hectors Frau und somit Gastgeberin des Barbecues bezieht klar Stellung, weil sie ein Geheimnis kennt. Auf einer Asienreise begegnet der resoluten Vernunftfrau eine männliche Alternative, ein Zweitleben in Canada erscheint auf dem Wunschzettel, jetzt wo der Angetraute schwächelt und Gefühle zeigt, die sie überflüssig und abstoßend findet. Sie muss sich entscheiden. Und da wäre noch Richie, eine blendend auserzählte Figur mit zerrütteter Kindheit und einer gesunden Beziehung dazu. Die Katastrophe ist quasi der Normalzustand, worüber sich aufregen, wenn der gelegentlich auftauchende Erzeuger, dem Asthmatikerjüngling die rauchende Kippe unter die Nase hält. Sein wirkungsvollster Trost, immerhin weiß Richie das er schwul ist. Während sein ständig betrunkener Vater nicht einmal weiß, dass er doof ist und seinen Sohn mit einem halben ipod zu versöhnen sucht.

Meinung:

Es ist schon ein besonderes Erlebnis für mich gewesen, den Roman zu lesen. Christos Tsiolkas schaut hinter die Fassade einer total durch individualisierte Gesellschaft, in der kein kleinster gemeinsamer Nenner mehr gefunden werden kann. Zwischen gelungenen und gescheiterten Lebensentwürfen bekommen hier Bagatellen ein Hochhausgewicht. Der Lebensinn muss, gespeist durch den jeweiligen kulturellen Hintergrund, mühevoll konstruiert werden, nachdem der Broterwerb gesichert ist. Dazu dienen neben sexuellen Erlebnissen und Bedürfnisbefriedigung jedweder Couleur, überlieferte Grundüberzeugungen, die man täglich selbst mit den Füssen tritt. Die „ich“-Maschine erreicht mit dem kleinen Hugo einen Höhepunkt. Wer immer da zuschlägt, schlägt zunächst einmal sich selbst. Schriftstellerisch ist „Nur eine Ohrfeige“ eine Meisterleistung, wobei zu konstatieren ist, das Christos Tsiolkas, den Anlass für die Konflikte etwas aus dem Auge verliert. Gegen Mitte des Romans flacht das Buch leicht ab, weil die Spannungserwartungen des Lesers nicht erfüllt werden und sich die Geschichte außerhalb des Erwartungsrahmens auflöst. Als sehr angenehm habe ich den Schreibstil empfunden und die fehlende Zuteilung in gut und böse Charaktere. Man darf bei Tsiolkas alle Menschen mögen, man darf über sie die Nase rümpfen, man darf nur nicht behaupten, dass sie unglaubhaft sein. Darin liegt eine Stärke, des Autoren. Ganz im Gegensatz zu seinem wenig emphatischen Personal, taucht er metertief in die Psyche von Männlein und Weiblein ein und fördert das Gold der Erkenntnis zu Tage. Ein feines Buch!