Rezension

Schlaf der Vernunft

Schlaf der Vernunft - Tanja Kinkel

Schlaf der Vernunft
von Tanja Kinkel

Bewertet mit 4 Sternen

Schlaf der Vernunft
Schlaf der Vernunft
Tanja Kinkel
Rezension vom 29.11.2015 (43)

Terror ist ein leider wieder sehr aktuelles Phänomen, das dem Einzelnen sowohl wie der Gesellschaft im Allgemeinen, gar ganzen Staaten, ihre Verletzlichkeit und begrenzte Sicherheit auf schreckliche Weise vor Augen führt.
Deutschland erlebte in den späten Siebziger Jahren eine nie erlebte Terrorwelle, als die Rote Armee Fraktion bombend und mordend gegen "das System" und seine Vertreter zu Felde zog. Mit erschreckender Brutalität und Kaltblütigkeit kämpften zumeist junge, gut ausgebildete und aus gutbürgerlichen Familien stammende Männer und Frauen für eine gerechtere Verteilung des Wohlstandes, gegen alte Nazistrukturen und das Verkrustete in der Gesellschaft, Dinge für die seit ´68 auch andere mehr oder weniger gewaltfreie Gruppen kämpften.
Warum es in der RAF zu einer derartigen Radikalisierung kam, wie aus den anfänglichen Banküberfällen Bombenattentate und schließlich skrupellose Morde wurden und viele der Täter auch nach der Inhaftierung und langen Gefängnisstrafen keinerlei Reue zeigten, ist eine der Fragen, denen Tanja Kinkel in ihrem neuen Buch "Der Schlaf der Vernunft" nachgeht.
Sie tut das mit einer fiktiven Protagonistin, Martina Müller, die von der braven Bürgertochter zum Mitglied der zweiten Generation der RAF mutiert. Sie beleuchtet ihren Familienhintergrund, lässt den Leser an Studienerfahrungen an der Hochschule für Fernsehen und Film in München teilhaben, begleitet ihre Kontakte zur linken Szene und macht die zunehmende Bestürzung über institutionelle Gewalt deutlich. Im Speziellen die Empörung über die Haftbedingungen der ersten RAF-Generation um Andreas Bader, Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin und besonders der Tod Holger Meins während eines Hungerstreiks führten zu immer radikaleren und brutaleren Aktionen.
Die Autorin bleibt dabei mit ihrer Protagonistin ganz nahe an den realen Ereignissen, erzählt klar, sachlich, schnörkellos.
Dabei ist die Stärke, (zeit)historische Vorgänge in eine schlüssige und auch für sich in der Materie nicht näher auskennende Leser nachvollziehbare, spannende Handlung zu packen, gleichzeitig auch die Schwäche vieler, zumal wie hier gut recherchierter, historischer Romane.
So wird doch Vieles zur Nacherzählung und bekommt etwas Lehrbuchhaftes.
Doch Tanja Kinkel belässt es nicht bei diesem von 1967 bis zum traurigen Höhepunkt im Deutschen Herbst 1977 spielenden Erzählungsstrang.
Als Rahmenhandlung und immer wieder dazwischen montiert dient die Haftentlassung Martina Müllers im Jahr 1998.
Per Brief wird dies ihrer Tochter Angelika angekündigt und diese muss sich nun erneut mit ihrer Vergangenheit, der Kindheit und Jugend, dem Verlassenwerden von der geliebten Mutter, der Angst vor und der Sehnsucht nach einem Wiedersehen auseinandersetzen. Wieviel Nähe kann und will sie zulassen? Wie wird ihre Umgebung darauf reagieren?
Aber Angelika ist nicht die Einzige, die die Nachricht zwingt, sich mit alten Dämonen auseinanderzusetzen.
Da ist einmal Steffen Seidel, ehemaliger Personenschützer und einziger Überlebender des von Martina Müller verübten Anschlags auf den Staatssekretär Werder. Und da sind die zurückgelassenen Söhne. Michael Werder, der Sohn des Staatssekretärs und zum anderen der Sohn des ebenfalls getöteten Fahrers Gschwindner.
Sie alle begleiten auch nach Jahrzehnten Trauer, Zorn und Schuldgefühle. Keiner von ihnen hat die damaligen Ereignisse wirklich verarbeiten können.
Der Autorin gelingt es, sowohl die persönlichen Verstrickungen als auch die von Stasi und Verfassungsschutz so spannend zu schildern, dass sich das Buch streckenweise wie ein Krimi liest. Dabei stellt sich auch immer wieder die Frage nach Reue und Vergebung.
Vor allem aber wirft Tanja Kinkel den Blick auf die Opfer des Terrors: die Getöteten und ihre Angehörigen, aber auch die Familien der Täter. "Denn das Leid der Opfer verjährt nie".(Klappentext)