Rezension

Schön, traurig, zauberhaft, etwas langatmig

Das Jahr, das zwei Sekunden brauchte - Rachel Joyce

Das Jahr, das zwei Sekunden brauchte
von Rachel Joyce

Irgendwie habe ich mir mehr erwartet, nachdem ich "die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry" so geliebt habe und kaum warten konnte, ein weiteres Buch dieser Autorin zu lesen. Voller Vorfreude schlug ich die erste Seite auf und nun sitz ich da und weiss nicht recht, was ich genau davon halten soll.

Ich möchte es mal versuchen. Der Schreibstil der Autorin ist immer noch absolut schön, fantasievoll und angenehm, ausführlich ohne allzu ausschweifend zu werden. Die Geschichte selbst hat grosses Potential, wurde meiner Meinung nach aber leider nicht ausgeschöpft.

Der Verlauf der Geschichte ist anfangs eher ruhig (ok, ist noch der Aufbau), mittig wurde es teils etwas langatmig (angenehm, aber man fragt sich ständig: ja und jetzt? Komm schon, wann wird's gewinnt die Geschichte an Tempo?) und gegen Ende war dann wirklich toll, wenn auch etwas spät. Das ganze Buch durch liefen 2 Geschichten parallel ab und mir war nicht einmal richtig klar, ob diese Geschichten zeitgleich oder verschoben passierten. Der Zusammenhang wird leider sehr spät aufgeklärt, obwohl der Leser sicher schon früher eine Vorahnung entwickelt. Und auch wenn immer mal wieder etwas passiert, plätschern die Geschichten friedlich vor sich hin, mir fehlte aber definitiv die Spannung. Es fühlte sich öfters an, als würde eine nasse Zündschnur angezündet: Der Funke springt, aber scheint nie etwas Grösseres zu entzünden.

Die Zeit spielt, wie es der Titel schon andeutet, eine entscheidende Rolle. Besonders die 2 Sekunden, beziehungsweise was sie auslösten, ist der rote Faden der Geschichte. Schade finde ich, dass ich gerade in diesem Roman über die Zeit auch Ungereimtheiten mit der Zeitform hatte. Denn manchmal kam mir der 11-jährige Byron nicht wie 11 Jahre alt vor, aufgrund einiger Dinge, die er tat oder sagte. Dann war er wieder sehr kindlich, was dann zwar passte, aber mich störte, weil ich das Bild von Byron immer wieder ändern musste. Auch gibt es gegen Ende noch Rückblenden, womit die beiden Geschichten verbunden werden, aber irgendwie fühlte es sich nicht so einwandfrei an, eher holprig und durchdacht.

Zuerst dachte ich auch, dass es teils um Unterschiede von sozialen Schichten in den 70er Jahren geht, was mich anfangs freute, dann aber doch bloss die Kulisse und nicht das Thema zu sein schien. In einem Film würde dies sicher toller Stoff für das Set (Kulisse und Kostüme) geben, im Buch fragte ich mich jedoch öfters, wie gesagt: Und jetzt? Auf was läuft das alles hinaus?

Die Figuren waren hingegen wieder sehr liebevoll gezeichnet, fein ausgearbeitet, sodass der Leser mit den Personen mitfühlen kann. Unglücklicherweise waren mir nicht alle Figuren sympathisch und über einige Kapitel nervte mich die eine Figur sogar ziemlich. Dafür möchte ich jedoch keinen Abzug geben, da es meines individuellen Geschmacks entspringt. Denn man merkt sehr wohl, dass die Autorin sich mit ihrer Geschichte und den Figuren sehr detailliert auseinander setzte und darstellte, mit der Liebe zu Kleinigkeiten und einer poetischen Sprache.

Allgemein hat mich der Roman leider etwas enttäuscht, teils sicher auch, weil ich hohe Erwartungen hatte. Der Schreibstil ist zauberhaft und liest sich wunderbar. Der Inhalt hat Potential, kam aber leider etwas spät erst in Fahrt bzw. hätte mehr daraus gemacht werden können. Ich gebe der Autorin dennoch noch eine Chance und möchte noch "der nie abgeschickte Liebesbrief an Harold Fry" lesen.
 

3,5 / 5 Sterne