Rezension

Sehr bewegende Literatur zu einem traurigen Kapitel der Geschichte.

Der Zug der Waisen
von Christina Baker Kline

Immer sind es die Kinder, deren Anklage besonders schmerzt.

"Orphan Trains" nannte man die Eisenbahnzüge, mit denen man zwischen 1854 und 1929 mehr als zweihunderttausend heimatlose, verlassene Kinder aus den Städten der Ostküste in den Mittleren Westen transportierte, um sie dort zur Adoption anzubieten. Sie fuhren im Auftrag der Children's Aid Society und vermittelten den Waisen eine neue Bleibe, fremde Menschen, die Willens waren, sich ihrer anzunehmen - aus welch' zweifelhaften Motiven auch immer.

 Auch Niamh Power befand sich in einem solchen Zug. Das neunjährige Mädchen, Tochter irischer Emigranten, hatte Schwester und Eltern bei einem Brand verloren und fuhr nun, das Herz voll banger Erwartung, einem ungewissen Schicksal entgegen. Es war eine Herde entwurzelter Geschöpfe, mit angstvollen, blassen, sauber geschrubbten Gesichtern, die auf Holzbänken zusammengepfercht saßen und von zwei bestellten Begleitern in eine Zukunft geführt wurden, in der Verzicht, Arbeit und mangelnde Liebe auf sie warteten. Ein Nichts waren sie, ohne Bedeutung für irgend jemanden, wurzellose Kinder, deren Namen man manches Mal ohne zu zögern einfach veränderte, wenn ihr eigener zu ungewöhnlich klang.

Aber das alles liegt weit zurück, ist nur noch Vergangenheit, Niamh blieb nur der Name Vivian und ein Speicher in einer alten Villa, der voller Spuren von Erinnerungen ist. Als Molly in Vivians Leben tritt, um lieber Sozialstunden bei ihr abzuleisten als Tage hinter Schloss und Riegel zu verbringen, ist es als ob gleichgesinnte Seelen einander zum Klingen bringen. Vivian spürt die Zuneigung zu dem ungebärdigen jungen Mädchen, und die Aufarbeitung des eigenen Lebens, wodurch Molly ihrerseits wächst und reift, erfüllt Vivians Dasein mit verloren geglaubtem Gefühl und hilft ihr, sich dem eigenen Schicksal noch einmal zu stellen.

 Christina Baker Kline hat einen tief bewegenden Roman geschrieben. Ihre Thematik des geschichtlichen Hintergrundes wird viel zu selten angesprochen und ist doch so unglaublich erschütternd gewesen. Sie versteht es durch ihre feinfühlig - intensiven Schilderungen die verzweifelte Lage der hilflosen Kinder greifbar nahe an den Leser heranzubringen. Man empfindet ohnmächtigen Zorn auf die seelenlosen "Erwerber" der kleinen Geschöpfe und möchte diese Züge anhalten, die Kinder dort herausholen und dafür sorgen, dass sie wieder unbeschwert lächeln können.

Indem die Autorin im Wechsel zwei Handlungsstränge verfolgt, die sich unmerklich aufeinander zu bewegen, schafft sie eine sehr strukturierte Geschichte, die fesselt und einen anhaltenden Spannungsbogen aufbaut, in den auch der Leser alle seine Gefühle mit einbringen kann. Der flüssige, sehr angenehme Schreibstil ist zusätzlich als positiv zu bewerten.

Ich würde diesem Roman auf jeden Fall eine volle Punktzahl geben und außerdem eine besondere Leseempfehlung aussprechen.