Rezension

Vergangenheit und Gegenwart verschmelzen zu einem emotionalen, fesselnden historischen Roman

Der Zug der Waisen
von Christina Baker Kline

Bewertet mit 5 Sternen

New York, 1929: Mit neun Jahren verliert Vivian Daly, Tochter irischer Einwanderer, bei einem Wohnungsbrand ihre gesamte Familie. Gemeinsam mit anderen Waisen wird sie kurzerhand in einen Zug verfrachtet und in den Mittleren Westen geschickt, wo die Kinder auf dem Land ein neues Zuhause finden sollen. Doch es ist eine Reise ins Ungewisse, denn nur die wenigsten von ihnen erwartet ein liebevolles Heim. Und auch Vivian stehen schwere Bewährungsproben bevor ... Erst viele Jahrzehnte später eröffnet sich für die inzwischen Einundneunzigjährige in der Begegnung mit der rebellischen Molly die Möglichkeit, das Schweigen über ihr Schicksal zu brechen.

“Ich glaube an Geister. Sie sind es, die uns verfolgen, die uns allein zurückgelassen haben.”
Die Handlung spielt auf mehreren Zeitebenen und beginnt in Spruce Harbor, Maine, im Jahr 2011. Dort lebt das junge Mädchen Molly in einer Pflegefamilie. Ihre leibliche Mutter war den Drogen verfallen und saß im Gefängnis, der Vater tot. Als sie bei einem Diebstahl erwischt wird, gibt es nur zwei Wege. Entweder sie muss ins Gefängnis oder aber sie leistet Sozialarbeit. Bei diesen Stunden lernt sie die 91-jährige Vivian kenn, der sie behilflich sein soll. Die beiden kommen sich näher und so bleibt es nicht aus, dass Vivian Molly ihre Lebensgeschichte erzählt. Alt trifft Jung, und doch – beide haben etwas gemeinsam
Das Leben der neunjährigen Vivian im Jahr 1929 in New York wird von einer Stunde zur andere durcheinandergewirbelt. Bei einem Brand verliert sie ihre Familie und Vivian war von nun an eine Waise. Diese Kinder wurden damals in den sogenannten “Orphan Trains” in den Mittleren Westen geschickt. Vivian landet in Minnesota. Nicht als Kind der Familie wurden sie dort angenommen, eher billig Arbeitskräfte, je nachdem. Und sie hatten sich zu fügen, was die “neuen Eltern” anordneten. Denn es gab ein gewisses Rückgaberecht für die Kinder. Das allein muss man sich mal vorstellen. Es schüttelt mich bei dem Gedanken.
Vivian, die Tochter irischer Einwanderer, ihre Geschichte, die sie Molly nach und nach erzählt, erlebt sehr viel Elend. Molly, dessen Vater indianischer Herkunft war, beginnt sich mit der Geschichte der Ureinwohnern auseinanderzusetzen. Schließlich floss in ihr noch dieses alte Blut.
Die Handlung ist keine leichte Kost, was schon aus dem Klappentext ersichtlich ist. Auch wenn Vivian ein fiktiver Charakter ist, die Geschichte um die Waisen hat ihren Hintergrund. Jahrzehntelang wurden Waisen aufgesammelt, im guten Glauben weitervermittelt. Die Handlung um Vivian ist gut erzählt, bildet sie doch den Hauptteil der Story. Wobei Molly in der heutigen Zeit und dem aktuellen System in Amerika als eine Zutat anzusehen ist. Allerdings eine wichtige, denn wenn es nur vivians Geschichte geworden wäre, hätte die Autorin dies anders aufbauen müssen.
Die beiden Protagonisten, Vivian und Molly, untergebracht in Pflegefamilien, erleben viel Leid, die eine mehr, die andere weniger. Molly als Gesprächspartnerin von Vivian erkennt schon das damalige Unrecht. Vivian hingegen hofft, dass sie Molly auf einen guten Weg bringen kann durch ihre Lebensgeschichte. Es scheint, als habe das Schicksal es so gewollt, dass sich die Wege der beiden kreuzen.
Denke daran, dass etwas, was Du nicht bekommst, manchmal eine wunderbare Fügung des Schicksals sein kann.
Eine Reise ins Ungewisse, in ein anderes Leben, das war der Weg der Waisen in den Orphan Trains”. Es gehört wohl mit zu den dunkelsten Kapiteln in der Geschichte Amerikas und um ehrlich zu sein, ich hatte zuvor noch nie davon gehört.
Wenn du deine Wurzeln verlierst, verlierst du den Grund unter deinen Füßen. Wie müssen sich diese Kinder gefühlt haben?
In ihrer Danksagung verweist die Autorin auf zig Recherchequellen, wobei ihr auch lebendige Zeitzeugen eine große Hilfe waren.
“Der Zug der Waisen”, dieses Buch kann man schlecht legen, es klingt nach und hinterlässt einen nachdenklichen Leser. Mein persönliches Lesehighlight 2014, eines der besten, welches ich in diesem Genre gelesen habe.