Rezension

Sehr religiös, aber definitiv etwas Besonderes

Wo Milch und Honig fließen - Grace McCleen

Wo Milch und Honig fließen
von Grace McCleen

Bewertet mit 4 Sternen

Später sannen wir über den Sündenfall nach, der vor sechstausend Jahren passiert ist, zweitausend Jahre von uns zu Jesus, sagte Vater, und viertausend von Jesus zu Adam, und ich sann über die Frage nach, warum ich wieder Bittergemüse essen musste, und sagte gar nichts. Aber mein Gesicht schien etwas zu sagen, denn Vater sagte: "Tausende von afrikanischen Kindern wären froh um dieses Essen." Ich wollte gerade sagen: "Dann wünschte ich, wir könnten's ihnen schicken", da hörten wir im Flur Glas splittern.

INHALT:
Die zehnjährige Judith ist Tochter eines religiösen Zeugen Jehovas und in Sachen Sprachvermögen für ihr Alter so weit fortgeschritten, dass sie eine höhere Klasse besucht - doch beide Aspekte wirken sich wenig positiv auf ihr Leben aus: Sie und ihr Vater werden beschimpft und beleidigt, sie selbst unter ihren Schulkameraden ausgeschlossen. Zuhause baut sie sich aus weggeworfenen Dingen ein "Land der Zierde", in dem sie nicht allein ist. Als ihr ein Mitschüler etwas Schlimmes androht, wünscht Judith sich, dass die Schule wegen Schnee ausfällt, und spielt genau das in ihrer Modellwelt nach. In der Nacht schneit es tatsächlich, und das Mädchen hat sein erstes Wunder bewirkt. Doch nicht aus allem gut gemeinten entsteht auch Gutes...

MEINE MEINUNG:
Grace McCleens "Wo Milch und Honig fließen" ist schon von der Erzählweise her etwas besonderes. Protagonistin ist die zehnjährige Judith, die aus der Ich-Perspektive im Präsens ihre Erlebnisse mit dem Leser teilt. Dabei wird perfekt auf die naiven, unerfahrenen Gedanken eines Kindes eingegangen, sodass dieser Aspekt sehr authentisch wirkt. Gleichzeitig ist das junge Mädchen für sein Alter so weit fortgeschritten, dass Themen wie Religion, Mobbing, Schuld oder Tod nicht selten mit einfließen, auch wenn gleichzeitig ebenfalls auf eher kindliche Problematiken wie Einsamkeit oder gemeine Klassenkameraden eingegangen wird.

Judith ist eine gleichwohl niedliche wie intelligente Protagonistin, die, obwohl sie durchaus philosophische Fragen stellt und recht erwachsen scheinende Gedankengänge hat, immer authentisch wirkt. Ihr Leben ist nicht einfach, besonders, weil sie sich in ihre eigene Fantasiewelt zurückgezogen hat - denn durch ihre religiös erzogene Art und ihre Wortwahl wirkt sie auf viele Menschen seltsam. Ihr Vater sorgt für sie und lehrt sie seine eigene Sichtweise im Hinblick auf Gott und die Bibel, ist dabei allerdings nicht sonderlich liebevoll. Der Grund dafür liegt in der Vergangenheit und wird später dezent thematisiert. Er macht wohl die größte Wandlung von allen durch; seine Handlungen sind nicht immer nachvollziehbar und gleichzeitig sind sie es doch, aufgrund seines schweren Schicksals kann man sich der Sympathien für ihn auf jeden Fall aber nicht erwehren.

Eine Helferin in der Not wird für Judith schließlich ihre neue Lehrerin, die sich für sie einsetzt, mit ihr spricht und immer versucht, sie aufzumuntern. Man erfährt nicht viel über sie, da sie allerdings sozusagen Judiths einzige Freundin wird, schließt man sie schnell ins Herz. Sonstige Figuren wie der Mobber Neil, der dem Mädchen das Leben zur Hölle macht, oder der ungläubige Mike, der dennoch ein Freund des Vaters ist, machen das Buch aufgrund ihrer Vielschichtigkeit besonders, denn nicht alles ist, wie es scheint. Viele der Figuren entpuppen sich im Laufe der Geschichte anders als man es erwarten würde, was klasse zu beobachten ist.

Das Thema Religion selbst ist sehr dominant und sowohl für Atheisten als auch für Christen auf verschiedene Art und Weise sicherlich schwer zu verdauen: Für Atheisten, weil besonders das erste Drittel aus vielen Bibelzitaten und religiösem Denken besteht, auch, wenn Judith des Öfteren humorvoll damit umgeht; für Christen, weil der letzte Teil des Buches dann doch eher sehr kritisch wird. Lässt man sich auf das Ganze allerdings erst einmal ein, erwartet einen eine fantasievolle, an manchen Stellen bedrückende, dafür aber auch in vielerlei Hinsicht schöne Geschichte von Mut, eigenem Denken, Mobbing und der Kraft der Gedanken. 

Ob man nun wie Judith daran glaubt, dass Gott zu ihr spricht und ihr hilft, Wunder zu vollbringen, oder ob man eher der Meinung ist, dass das alles sehr passende Zufälle sind, bleibt einem selbst überlassen. Klar ist aber, dass der Fortgang der Geschichte einen nicht unberührt lässt, denn Judiths Probleme wachsen mit ihren Wundern, so sehr, dass sich schließlich sogar ihr sonst so in die Bibel vertrauender Vater Gedanken darüber macht, ob das Leben so weitergehen kann. Die Entwicklung sowohl der Story als auch der Figuren ist wunderbar zu verfolgen und mündet in einem schönen, gut durchdachten Ende, das den gesamten Roman sehr passend ausklingen lässt.

FAZIT:
"Wo Milch und Honig fließen" von Grace McCleen ist von der Grundgeschichte her sehr religiös und daher anfangs etwas schwergängig. Mit der Zeit aber lernt der Leser die wunderbare junge Judith kennen, die man in ihrer kindlichen Naivität mit dem gleichzeitigen Scharfsinn nur ins Herz schließen kann, ebenso, wie die Geschichte selbst zu berühren vermag. 4 verdiente Punkte für dieses besondere Buch!