Rezension

So wird Geschichte lebendig!

Torstraße 1 - Sybil Volks

Torstraße 1
von Sybil Volks

Bewertet mit 5 Sternen

Für mich war dies wieder einmal ein Roman, nach dessen Lektüre ich gern sofort nach Berlin, an die Orte der Handlung gereist wäre, um auf den Spuren von Elsa und Bernhard zu spazieren, um mir die Geschichte mit Stadtplan und Reiseführer in der Hand noch einmal zu erlaufen.

Berlin im Jahre 2010 – zur Eröffnung des exklusiven Privatclubs  Soho House mischt sich eine achtzigjährige Dame unter die Gäste. Elsa will hier ihren Geburtstag feiern, denn vor genau 80 Jahren wurde sie in diesem Haus, damals als Kaufhaus Jonas von der jüdischen Familie Grünberg eröffnet, geboren. Ihre Mutter, Mitarbeiterin in diesem Kaufhaus, wurde während der Arbeit von vorzeitigen Wehen überrascht. In der Poststelle erblickt ihre Tochter Elsa das Licht dieser Welt und ein Handwerker musste als unfreiwilliger Geburtshelfer einspringen.

Der Zimmermann verpasst deshalb zuhause die Geburt seines eigenen Sohnes Bernhard. Dieser „gemeinsame Geburtstag“ der Kinder, eine Laune des Schicksals oder ein Zufall, begründet eine Freundschaft zwischen den Familien und vor allem zwischen den beiden Kindern, die schon im Kleinkindalter regelmäßig gemeinsam spielen, miteinander feiern und Freunde werden.

Die Kinder wachsen heran, am politischen Horizont ziehen die braunen Wolken auf und werden unübersehbar größer und bedrohlicher. Irgendwann muss die Familie Grünberg Deutschland verlassen, das Kaufhaus wird zunächst von einem überzeugten Nationalsozialisten geleitet, später wird es der Eigentümerfamilie im Zuge einer Enteignung genommen werden. Elsas Vater ist der Sohn dieser jüdischen Familie, niemand aber darf das wissen und deshalb lässt Vicky, Elsas Mutter, den Passus „Vater unbekannt“ in die Geburtsurkunde eintragen, auch um ihr  Kind vor späteren Repressalien zu schützen. Aber Vicky kann sich von dem Gedanken, auch Verantwortung für dieses Haus zu haben, nicht freimachen und wird beinahe zu lange versuchen, das Haus für die Familie Grünberg und damit vielleicht auch für ihre Tochter zu erhalten.

Am Beispiel dieser Personen und der beiden Kinder und deren Familien erzählt die Autorin von einer bedrückenden Zeit in der deutschen Geschichte und davon, wie schwer es für den Einzelnen war, sich dem Machtgefüge und den daraus resultierenden Veränderungen zu entziehen. Das „Kaufhaus Jonas“ übersteht den Krieg, wird zweckentfremdet als Zentrale der Hitlerjugend genutzt und wird später nach der Teilung der Stadt zum Institut für Marxismus-Leninismus der SED umfunktioniert.

Bernhard und Elsa verlieren sich nicht aus den Augen, wenn auch die neuen Machtverhältnisse und später die Mauer für lange Zeit Trennung der beiden Familien bedeuten.

Elsa hat sich in die eingangs erwähnte Eröffnungsparty eingeschlichen, weil sie hofft, auch für Bernhard möge dieser Tag und „ihr Haus“ die gleiche Bedeutung haben wir für sie, ihn hofft sie hier und heute wieder zu treffen. Während sie darauf wartet und hofft, blickt sie zurück und erlebt in der Erinnerung an Ereignisse ihres Lebens stellvertretend für eine ganze Generation achtzig Jahre deutscher Geschichte. Diesen Rückblick erzählt uns die Autorin nur bedingt chronologisch, mal aus Elsas, mal aus Bernhards Sicht. Sie schildert starke Charaktere, die trotzdem in manchen Situationen ihres Lebens zu zerbrechen drohen, aber dennoch nie aufgeben. Als Leser kann man nicht umhin, die Leben von Elsa und Bernhard mitzuerleben und damit wesentliche Kapitel der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert beinahe als eigene Erfahrungen zu empfinden.  Für mich ein großartiges Buch, dem es mühelos gelingt, ohne einen erhobenen Zeigefinger auf eine zeitweilig unrühmliche Vergangenheit zu schauen.

Für mich war dies wieder einmal ein Roman, nach dessen Lektüre ich gern sofort nach Berlin, an die Orte der Handlung gereist wäre, um auf den Spuren von Elsa und Bernhard zu spazieren, um mir die Geschichte mit Stadtplan und  Reiseführer in der Hand noch einmal zu erlaufen.