Rezension

Spannendes Beziehungsdrama

Treibgut -

Treibgut
von Adrienne Brodeur

Bewertet mit 5 Sternen

REZENSION – Eigentlich geschieht gar nicht so viel in „Treibgut“, dem im April vom Kindler Verlag veröffentlichten Roman von Adrienne Brodeur. Den Handlungsrahmen bilden die Vorbereitungen zur großen Party anlässlich des 70. Geburtstags des Meeresbiologen Adam Gardner. Reicht dies für einen 460-Seiten-Roman? Und ob! Denn nicht die Handlung steht bei der amerikanischen Autorin im Vordergrund ihres Romans, sondern das überaus komplizierte Beziehungsgeflecht innerhalb der gutsituierten, in der Öffentlichkeit als musterhaft erscheinenden Vorzeigefamilie mit Vater Adam und den erwachsenen Kindern Ken und Abby. Der Autorin gelingt es auf faszinierende Weise, das in der familiären Abhängigkeit überaus schwierige Miteinander ebenso wie Gegeneinander unterschiedlicher Charaktere psychologisch tiefgründig und sprachlich eindringlich zu schildern, dass gerade dieser hintergründige Kleinkrieg für Spannung sorgt und beim Lesen einen Sog erzeugt, dass man das Buch kaum aus der Hand legen mag.

Im kapitelweisen Wechsel lernen wir jeweils für sich die Protagonisten immer näher und besser kennen: Adam Gardner blickt voller Sorge und zunehmender Verunsicherung auf seinen bevorstehenden Geburtstag: „Vielleicht war siebzig nicht das Ende der Welt, aber doch ein schwindelerregender Meilenstein, ein Riesenschritt auf den Abgrund der Sterblichkeit zu.“ Der einst erfolgreiche Meeresbiologe - „ein weiterer dummer Wisenschaftler mit Größenwahn, von seinem eigenen aufgeblasenen Ego zu Fall gebracht“ - mag sich nicht damit abfinden, dass er von jüngeren Wissenschaftlern aus seinem Büro gedrängt wird, und versucht, sich selbst zu trösten: „Er war ein Genie, dessen Aufgabe darin bestand, die endlosen Wunder der Tiefe zu erforschen. Er brauchte diesen schäbigen Arbeitsplatz nicht und erst recht nicht die damit verbundenen Scherereien.“ Ein letztes Mal will er sein Können beweisen und die Sprache der Wale entschlüsseln.

Sein Sohn Ken (41) ist erfolgreicher Immobilienunternehmer, Vater zweier pubertierender Zwillingstöchter, der in mentaler Stärke und unternehmerischem Erfolg seinem Vater nachzueifern versucht. Doch er steckt gerade in einer Ehekrise und leidet psychisch noch immer unter dem Verlust seiner Mutter, die einst bei der Geburt seiner Schwester Abby verstarb, als er erst drei Jahre alt war. Er hat „noch immer die Melodie der Stimme seiner Mutter beim abendlichen Vorlesen im Ohr“. Doch Schwäche darf er sich nicht eingestehen und schon gar nicht nach außen zeigen, bemüht er sich doch gerade um ein politisches Amt.

Seine unverheiratete Schwester Abby (38) ist Lehrerin und eine bislang noch unbekannte Künstlerin, die dank einer kommenden Reportage in einem Kunstmagazin kurz vor ihrem Durchbruch als Malerin steht. Sie ist im Grunde unselbstständig und vom Wohlwollen ihres Bruders abhängig, dem das von ihr genutzte Atelier gehört. „Immer noch lief sie auf Zehenspitzen um die Launen ihres Bruders herum wie ein rohes Ei. Und um die ihres Vaters auch.“ Doch ihre Schwangerschaft – sie erwartet ein Kind von ihrem verheirateten Jugendfreund David – ist Anlass zur Selbstbefreiung aus familiärer Abhängigkeit.

Dabei hilft ihr auch die etwa gleichaltrige Polizistin Steph, die sich als ihre Halbschwester zu erkennen gibt, Ergebnis eines Seitensprungs des gemeinsamen Vaters Adam. Das über Jahrzehnte sorgsam bewahrte Bild einer Musterfamilie beginnt langsam zu bröckeln. Lange gehütete Familiengeheimnisse dringen ans Licht. „Wir alle setzen manchmal Masken auf“, stellt Kens Psychiater fest. „Das nennt sich Selbstschutz. ... Man kann vergangenen Schmerz nicht überwinden, ohne ihn zu durchleben. Das nennt sich sonst Leugnen.“ Diese Masken beginnen zu fallen. Alles läuft unaufhaltsam auf eine familiäre Katastrophe zu. So wird „Treibgut“ vor allem in der zweiten Hälfte zu einem spannenden Familienroman und Beziehungsdrama, dessen Lektüre sich unbedingt lohnt.