Rezension

Transgenerationale Traumatisierung im Lichte des aktuellen Zeitgeschehens

Sobald wir angekommen sind -

Sobald wir angekommen sind
von Micha Lewinsky

Bewertet mit 5 Sternen

Micha Lewinskys Romandebüt "Sobald wir angekommen sind" spielt in der aktuellen Zeit, in der in Mitteleuropa eigentlich immer noch viel Sicherheit und materieller Wohlstand vorhanden sind, aber die multiplen Krisen die Psychen vieler Menschen angreifen und für tiefgreifende Angst und Verunsicherung sorgen. Umso mehr gilt das für jene, die sowieso schon die Last transgenerationaler Traumata tragen, so wie den Hauptprotagonisten Ben Oppenheim, den wir in diesem Roman kennen lernen. 

Ben steht eigentlich ganz gut im Leben, er lebt in Zürich, hat eine mittelmäßig erfolgreiche Karriere als Roman- und Drehbuchautor hinter sich, zwei halbwüchsige Kinder und eine Frau, mit der er in Trennung lebt und sich aus finanziellen Gründen - zwei familientaugliche Wohnungen sind im teuren Zürich für die Familie nicht leistbar - abwechselnd gemäß dem Nestmodell bei den Kindern in der ehemals gemeinsamen Wohnung aufhält. Materiell geht es der Familie nicht schlecht und im Hintergrund gibt es auch noch Bens vermögenden Vater, der bei Bedarf immer wieder mal mit kleineren Finanzspritzen aushilft. Und auch faktisch ist in der sicheren Schweiz bis jetzt kein Krieg. 

Doch Ben stammt, genauso wie seine Noch-Frau und Mutter seiner Kinder Marina, aus einer jüdischen Familie, aus einer langen Linie der wenigen Überlebenden von Verfolgungen und Ausrottungsversuchen seines Volkes. Besonders verbunden fühlt er sich dem ebenfalls jüdischen Schriftsteller Stefan Zweig, an dessen Biografie in Drehbuchform er arbeitet, und der damals in den 1930er Jahren schon frühzeitig die Zeichen der Zeit erkannte und sich rechtzeitig ins sichere Brasilien rettete (wo er sich aber schlussendlich in einer depressiven Phase das Leben nahm). 

Mit der Trennung von seiner Frau scheint es Ben insgesamt nicht so schlecht zu gehen, er hat schon eine neue Beziehung gefunden, mit der jungen Künstlerin und getrennt lebenden Mutter Julia Beck (ohne jüdische Abstammung und ohne ähnliche transgenerationale Traumatisierungserfahrungen). Es könnte also einiges ganz okay sein in Bens Leben, wären da nicht die tiefen Ängste davor, dass der Krieg im Osten Europas sich unerwartet und plötzlich auch auf die Schweiz ausdehnen könnte und es dann vielleicht zu spät sei für eine Flucht.

Marina und Ben haben schon öfters darüber gesprochen, was in einem solchen Fall zu tun sei, um sich selbst und vor allem die gemeinsamen Kinder zu schützen. Und dann passiert tatsächlich etwas, von dem beide denken, es könnte der letzte Auslöser gewesen sein und in einer plötzlichen Aktion fliehen die beiden ohne viel weiteres Nachdenken mit den gemeinsamen Kindern nach Brasilien, nun doch wieder als scheinbar gemeinsame Familie, und ohne Bens neue Freundin Julia und deren Sohn. Sich dort zurechtzufinden, stellt die Familie vor alle möglichen unerwarteten Herausforderungen und der noch nicht eingetretene Weltkrieg in der Schweiz bringt die Frage mit sich, ob die Flucht nicht doch überstürzt war. 

Ich habe dieses Buch innerhalb kürzester Zeit ausgelesen, weil mich die Geschichte sofort gepackt hat und ich mich sehr mit den Figuren identifizieren konnte. Es spiegelt für mich sehr gut das aktuelle Zeitgeschehen und zeigt auf, wie sich dieses mit individuellen Schicksalen verknüpft und wie persönliche Ängste und intergenerationale Traumatisierungen durch die aktuellen Krisen wie durch ein Brennglas verschärft werden können. 

Noch vor zehn Jahren hätte so eine plötzliche Flucht, wie sie in diesem Buch beschrieben wird, möglicherweise sehr unrealistisch gewirkt... nun kenne ich selbst einige Menschen, bei denen die Krisen der letzten Jahre ähnliche Ängste hervorgerufen haben und die sich ebenfalls sehr intensiv mit dem Gedanken daran, Mitteleuropa zu verlassen, getragen haben (und es gibt auch einige, die das ja tatsächlich getan haben). 

Gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Veränderungen bahnen sich langsam an, können sich aber - wie die Geschichte zeigt - durchaus auch dann sehr plötzlich zuspitzen, und oft zeigt sich erst im Nachhinein, welche Ängste vielleicht übertrieben waren und wer tatsächlich ein feines Sensorium für bevorstehende Gefahren hatte, das gemeinsam mit dem Mut zum entschlossenen Handeln diese Personen dann gerettet hat. So ist Bens und Marinas Handeln für mich insbesondere vor deren Familiengeschichte als Nachkommen Überlebender für mich sehr gut nachvollziehbar. 

Sehr gut gefallen hat mir auch, dass das Buch nicht mit der Ankunft in Brasilien endet, sondern das Leben in Brasilien und die damit verbundenen Herausforderungen ebenfalls detailliert und authentisch geschildert werden. Damit macht es nachfühlbar, dass es zwar möglich ist, auszuwandern, aber sich damit nicht automatisch alle Probleme, die man im Leben hatte, in Luft auflösen, und das Leben anderswo - noch dazu als Neuangekommene - nicht unbedingt einfacher ist. 

Auch der Titel "Sobald wir angekommen sind" ist für mich sehr stimmig und passend. Im Buch zeigt sich eben genau diese Problematik: Ben kommt nicht wirklich an im Leben. Nicht so ganz in seiner Karriere als Buch- und Drehbuchautor mit mittelmäßigem Erfolg. Nicht so ganz in der Beziehung zu den zwei Frauen Marina und Julia, zwischen denen er sich weder wirklich entscheiden, noch sich langfristig auf eine davon wirklich tiefgehend einlassen kann. Und örtlich auch nicht.

Ben bleibt ein Getriebener und Ängstlicher, der doch verzweifelt nach einem "Ankommen" und einem sicheren Hafen sucht, geografisch und in einer Beziehung, und diesen doch nicht finden kann, solange er in den alten Traumatisierungen und Ängsten gefangen bleibt und jederzeit am Sprung ist, zu fliehen. Das hat der Autor sehr authentisch herausgearbeitet und stellt es auch immer wieder in den Kontext der Geschichte des jüdischen Volkes und stellt anhand des Protagonisten Ben und der Menschen in seinem Leben Fragen und Anregungen dazu, was das Spezifische dieser Geschichte und der daraus resultierenden Prägungen ausmachen kann und wie sich dieses Thema bis heute auf die Menschen auswirkt. 

Ein sehr interessantes und nachdenklich machendes Buch, das ich allen empfehlen kann, die sich gerne mit Themen des aktuellen Zeitgeschehens im 21. Jahrhundert und deren Auswirkungen auf die Psyche der heutigen Menschen vor dem Hintergrund transgenerationaler Traumatisierungen interessieren.