Rezension

Über den Mut sich fallen zu lassen und vom Leben aufgefangen zu werden

Der Tag, an dem der Goldfisch aus dem 27. Stock fiel - Bradley Somer

Der Tag, an dem der Goldfisch aus dem 27. Stock fiel
von Bradley Somer

Ein Goldfisch braucht weniger als vier Sekunden, um die Entfernung zwischen dem siebenundzwanzigsten Stock und dem darunterliegenden Gehsteig zu überwinden. Wie ein Blitz. Es ist die Zeitspanne, die man braucht, um eine Haustür aufzuschließen. Die Zeitspanne, die man braucht, um einen oder zwei Sätze zu lesen. Für Ian ist es eine Lebensspanne der Wunder (Seite 310)

Inhalt
Goldfisch Ian fällt aus dem 27. Stock und nimmt uns dabei mit. Auf dem Weg nach unten, kommt er an den 27 Etagen des Wohnhauses "The Seville on Roxy" vorbei und stellt uns einige der Bewohner genauer vor. Hermann lebt mit seinem Großvater zusammen und fällt in regelmäßigen Abständen in Ohnmacht. Connor erhält Besuch von seiner Freundin Katie, die eine ganz bestimmte Frage beantwortet bekommen möchte. Petunia ist hochschwanger und alleine zu Hause, als die Wehen einsetzen. Claire ist eine Einsiedlerin, die sich schon seit Jahren nicht mehr aus ihrer Wohnung heraus getraut hat. Garth erhält ein kleines Päckchen, welches ihn selig vor Freude macht. Und Jimenez ist der Hausmeister und die gute Seele, die nicht nur den Aufzug oder Wasserhahn repariert, sondern auch mit seiner großen Menschlichkeit zu überzeugen weiß. Ein buntes Kaleidoskop an Menschenleben zieht an Ian vorbei – doch was wird geschehen, wenn er unten ankommt?

Meine Meinung
Eins vorweg: bei diesem Buch sollte man sich nicht täuschen lassen. Auch wenn Titel und Cover leichte Kost vermuten lassen, ist dieser Roman so viel mehr. Sprachlich durchaus anspruchsvoll, mit leicht philosophischen Elementen und einem klugen Witz, hat es mich nicht nur zu überzeugen gewusst, sondern auch bestens unterhalten.

Schon bei der Beschreibung von Ian musste ich Schmunzeln. Die Kapazität seines Fischhirns ist nur wenig ausgeprägt, wie der Autor auf Seite 13 passend formuliert 

Ians Welt ist eine Reproduktion von Ereignissen ohne logische Abfolge, ohne Vergangenheit, ohne Zukunft

Er taumelt in der Luft auf seinem Weg die 27. Stockwerke hinunter und hat ein Kurzzeitgedächtnis, dass ihn immer wieder innehalten und fragen lässt "Also ... Was habe ich gerade gemacht? Ach herrje ..." Ian hat bisher sein Leben neben der Schnecke Troy gefristet und war eigentlich ganz zufrieden in seinem Fischglas. Auf dem Weg das Wohnhaus hinunter erleben wir jedoch einen Ian, dem der Fall zunächst gut gefällt, was auf Seite 63 wunderbar beschrieben ist:

Aber hat es sich gelohnt, das Fischglas aus Angst vor dem Unbekannten nie zu verlassen? Dieser Meinung ist Ian nicht. Ein ganzes Leben in einem Fischglas führt dazu, dass man als alter Fisch
stirbt, ohne auch nur ein einziges Abenteuer erlebt zu haben.

Und Ian ist sowas von bereit für das Abenteuer. Doch wie bei jedem Abenteuer erlebt er nicht nur Höhen, sondern auch Tiefen und so ist es nicht verwunderlich, dass Ian sich – zumindest kurz, weil bei seinem Fischgehirn ja lang gar nicht möglich ist – fragt, was wohl passieren mag, wenn er am Boden ankommt. Man spürt sein Unwohlsein, je tiefer er fällt und hofft mit ihm, dass nicht das schlimmste geschieht.

Brad Somers erzählt jedoch nicht nur die Geschichte von Ian, sondern auch von einigen der Bewohner des Wohnhauses. Und wie er das tut, hat mir ganz besonders gut gefallen. Jeder Protagonist findet in einem kurzen Kapitel Erwähnung, dann wird der nächste vorgestellt, sodass der Leser nach und nach die einzelnen Charaktere kennenlernt bis der Autor dann wieder einen Bogen spannt, um die zuvor genannten erneut ins Geschehen zu ziehen. Die Kapitel sind so gestaltet, dass sie mit wenigen Worten eine kleine Einführung zum jeweiligen Inhalt geben und gleichzeitig anzeigen, aus welcher Sicht erzählt wird. Hervorheben möchte ich an dieser Stelle Kapitel 49 und 50, die mich ganz besonders berührt haben. 

Kapitel 49 - In dem Jiménez erkennt, das Einsamkeit ebenso eine Entscheidung ist, wie mit einem tropfenden Wasserhahn zu Leben

Kapitel 50 - In dem Garth einen Blick auf die wahre Liebe erhascht und sich das Glück in seinem Bauch ausbreitet wie ein Schluck heißer Schokolade

Das "Seville on the Roxy" ist zwar ein ganz gewöhnliches Wohnhaus, aber für mich ist es nun viel mehr geworden. Ich habe die Bewohner ins Herz geschlossen und nehme nur ungern Abschied.

Fazit
"Der Tag an dem der Goldfisch aus dem 27. Stock fiel" ist ein wunderbares Buch, welches ich sehr gerne weiter empfehle. Wer Romane liebt, die anspruchsvoll, berühren und nachdenklich machen, wird sehr viel Freude mit Ian und den Roxy-Bewohnern haben.