Rezension

Verspielte Geschichte in großartiger Atmosphäre

Neun Tage in Lissabon - Hervé Le Tellier

Neun Tage in Lissabon
von Hervé Le Tellier

Bewertet mit 4 Sternen

Ein Fotograf und ein Journalist sollen für eine französische Zeitung aus Portugals Haupstadt Lissabon vom Prozess gegen einen Serienmörder berichten. Vincent, der diese Ereignisse von 1985 rückblickend erzählt, ist dieser Journalist, zugleich auch Autor und Übersetzer. António, der Fotograf, stammt aus Lissabon. Verbunden sind die beiden Männer nicht nur beruflich durch ihre Vergangenheit als Kriegsreporter, sondern auch durch Irene, die Vincent liebt und mit der António eine Beziehung hat. Der Prozessbeginn verzögert sich und so haben der Besucher und der Einheimische überraschend Zeit für die müßige Entdeckung der Stadt. Nach wenigen Tagen werden sich ihre Wege wieder trennen, ein Anlass für António, sich Vincent zu öffnen und von seiner Jugendliebe Pata zu erzählen. António hat Pata (die Ente) auf dem Schulweg kennengelernt. Das jüngere Mädchen verführt António in provozierender Weise, zu spät zur Schule zu kommen. Eine enge Freundschaft entwickelt sich. Als Pata 15 ist, wird der Kontakt zwischen beiden von den Eltern verhindert; sie verlieren sich aus den Augen. Vincent besetzt die Person Pata, deren wirklichen Namen er noch nicht einmal kennt, stellvertretend für António und sucht in der Stadt nach der Jugendliebe seines Kollegen. Beim Besuch des botanischen Gartens Estufa Fria taucht eine junge Geigerin auf, die ebensogut eine Phantasiegestalt Vincents sein und seine Vorstellungen von Irene überlagern könnte.

Die Geschichte Vincents, der dreist die Erinnerungen Antónios an Pata okkupiert, nimmt Hervé Le Telliers Leser mit in das alte Viertel Lissabons, durch das sich die Straßenbahn (nach der der Originaltitel des Buches benannt ist) dicht an den Fenstern der Wohnhäuser entlang den Berg hinauf quält. Die Vermittlung der Atmosphäre Lissabons, wo die abblätternde Pracht der Paläste kurz nach dem Ende der Diktatur Salazars noch von der ehemaligen Kolonialmacht kündet, ist die Stärke diese Buches. Wie Vincent sich in Träumen von unerreichbaren Frauengestalten verliert, harmoniert in idealer Weise mit Lissabons melancholischer Ausstrahlung, konnte mich mit der verspielten Darstellung jedoch nicht erreichen.