Rezension

Wie Karl Marx dachte und warum.

Karl Marx in Paris - Jan Gerber

Karl Marx in Paris
von Jan Gerber

Bewertet mit 4.5 Sternen

Marx-Boom. Etwas kann man schon wissen können, über den Herrn, meine ich. Ich weiss viel zu wenig. Jan Gerber hilft da aus. An der Wortwahl ist nichts auszusetzen und ich bin jetzt klüger, doch ich hasse Nominalgruppen, wenn "sie Rudel bilden".

Jan Gerber hat ein, so weit ich es beurteilen kann, kluges Buch geschrieben und das nicht nur über die Zeit, die Karl Marx in Paris verbrachte. Insofern ist der Titel irreführend. Es handelt davon, wie Marx dachte, woher seine Impulse kamen und ob und warum dieses Denken kritisiert werden kann.

Die Zeit, vom Oktober 1843 bis zum Februar 1845 steht zwar im Fokus der Betrachtungen, doch greift Gerber zeitlich sehr viel weiter zurück und ebenfalls weit darüber hinaus bis in unsere Gegenwart. Der Titel dient mehr oder weniger der besseren Fassbarkeit. Die tatsächlich verbrachte Zeit Karl Marxens in Paris war kurz, jedoch philosophisch-historisch bedeutsam. Der Autor zitiert denn auch den bekannten Marxbiographen Isaiah Berlin: „Die Jahre 1843 bis 1845 sollten die entscheidenden seines (Marxens) Lebens werden“.

Zunächst war Marx kein Kommunist, sondern, sagt der Autor, ein Radikaldemokrat. In Paris, in dem viele Exildeutsche lebten, diskutierte und schrieb er und entwickelte sich in die Richtung des Kommunismus.

Wie Karl Marx in Paris lebte, wen er alles getroffen hat, wie seine Familienverhältnisse waren, alles das, interessiert den Autoren nur am Rande. Er hat ein analytisches Interesse und untersucht, wie die Begriffe, Klasse, Proletariat, Revolution, zwingendes (automatisches) Fortschreiten der Geschichte (durch Klassenkampf) zu der Gemeinschaft von Freien und Gleichen zu verstehen seien, woher sie angeflogen kamen und ob sie sich bewahrheitet haben, grob gesagt, ob Marx richtig lag. Mit seinen Thesen. Seinen Vorhersagen. Seinen Ansichten. Jan Gebers Buch ist ein kritisches Buch.

Nach der Beendigung der Lektüre, las ich den Prolog, in dem die Aufgabenstellung des Autors vorbildlich präzisiert wird, noch einmal. Nach der Lektüre habe ich den Prolog und die Aufgabenstellung viel besser verstanden und zu schätzen gewusst.

Die Inhalte von „Marx in Paris“ haben mich interessiert und ich habe sie auch als Nichthistoriker mehr oder weniger nachvollziehen können.

Doch die Aufbereitung dieser Inhalte ist nicht gut genug gelungen. Denn Jan Gerber schreibt ausschließlich im wissenschaftlichen Nominalstil, d.h. er packt sehr viele Zusatzinformationen in Form von vorgeschobenen und nachgeschobenen Attributen in einen Satz. Das ist wissenschaftlich anerkannt und ökonomisch. Doch dieser Stil geht auf Kosten der Lesbarkeit. Man muss jeden Satz seiner Attribute erst einmal entkleiden, um herauszubekommen, was im „geraden Satz“ eigentlich die Aussage ist (wo der Hauptsatz ist und sein Verb). Dann kann man die ZAHLREICHEN Attribute und Relativsätze dazulesen. Das ist mühsam. Dementsprechend muss man eine längere Lesezeit veranschlagen als man sonst für knapp 240 Seiten braucht.

Für den nichtwissenschaftlichen Leser wären Hauptsätze, verbunden mit erklärenden Konjunktionen, „denn“, „weil“, „darum“, wesentlich geeigneter, selbst wenn man dann mehr Seiten zu lesen hätte. Man muss ja nicht gleich auf sämtliche Nominalgruppen verzichten, des Geisteswissenschaftlers liebstes Kind. Dennoch muss man sich als populärwissenschaftlicher Autor auch die Pädagogik des Vermittelns auf die Fahnen schreiben.

Die Strukur des Buches wiederum lässt nichts zu wünschen übrig.

Fazit: Interessanter Erkenntnisgewinn. Geisteswissenschaftliche Arbeit verständlich gemacht. Es geht aber leserfreundlicher. Sehr viel leserfreundlicher. Das haben andere Sachbuchautoren bewiesen.

Kategorie: Sachbuch
Verlag: Piper, 2018

Kommentare

Emswashed kommentierte am 04. Juni 2018 um 20:57

Nu, da isser ja! Nachdem er aus Darwins Garten geflohen ist, kommt Marx jetzt zu seinem Recht. Er hätte in Paris bleiben sollen, dann wär er in London nicht so missverstanden und argwöhnisch beäugt worden.

wandagreen kommentierte am 05. Juni 2018 um 00:17

Stimmt. Ich war besonders neugierig auf Karlchen und von daher vom Garten entsprechend enttäuscht. Wie schön, dass du ihn mochtest.  So kommen manchmal wunderbarer Weise die Romane in die richtigen Hände. Als Nächstes muss ich in die Antike. Darauf bin ich auch sehr gespannt.

Steve Kaminski kommentierte am 09. Juni 2018 um 10:36

Scheint ein interessantes Buch zu sein! Das mit den Nominalgruppen ist eine Unart; ein Text gewinnt ja nicht dadurch an Qualität, dass er steif und schwer verständlich geschrieben ist.