Rezension

Zwei Kinder, ein Ostindienfahrer und eine Dosis Spökenkiekerei

Die Insel der Unschuldigen -

Die Insel der Unschuldigen
von Jess Kidd

Bewertet mit 4.5 Sternen

1628 legt auf Texel der Rahsegler Batavia ab, ein Ostindienfahrer mit über 300 Menschen und drei Wundärzten an Bord. Passagiere sind u. a. die 8jährige Mayken van der Heuvel und ihr Kindermädchen Imke, auf dem Weg zu Maykens Vater auf Java, an den sie keine Erinnerung hat. Erstaunlich kess durchstreift Mayken das Schiff vor dem Mast, hinter dem Mast und auf den verschiedenen Decks. Maykens Beobachtungen werden aus kindlicher Perspektive und in anfangs kindlichem Erzählton niedergeschrieben. „Das Kind“ hat offensichtlich eine ausgeprägte Beobachtungsgabe für die Klassengesellschaft an Bord, steckt unappetitliche Ereignisse souverän weg und kanalisiert die Ängste ihrer Epoche mit der Suche nach einem Monster, dass noch unter dem Deck hausen muss, auf dem Kühe und Schweine gehalten und Soldaten von Mannschaft und Passagieren ferngehalten werden. Für ihre Abenteuer kleidet sich Mayken in Lumpen eines Küchenjungen, wird so zu Obbe und träumt von einem Leben als Seemann, während Imke am Geruch erkennt, wo Mayken herum gestrolcht ist. Als die Batavia im Sturm von ihrem Schiffsverband getrennt wird und Schiffbruch erleidet, geht Maykens Erzählung trotz des kindlichen Blickwinkels in den Bericht eines grausamen Überlebenskampfes über, den man einem Kind nicht wünscht.

In der Gegenwart wird 1989 "das Kind“, der 9jährige verwaiste Gil, nach Beacon Island gebracht und realisiert, dass seine Mutter Dawn einmal dort gelebt haben muss. Sein Großvater Joss arbeitet auf dem Korallen-Inselchen als Fischer, abgelehnt von den ansässigen Fischerfamilien und daher stets in Gefahr, beim Fischen allein zu verunglücken. Durch eine Archäologengruppe, die auf der Insel gräbt, und durch ein Buch über frühere Funde gelangt Gil mit dem Schicksal der Batavia in Kontakt.

Die Handlung wechselt zwischen Mayken 1628 und Gil im Jahr 1989; die Fäden laufen in immer schnellerem Tempo aufeinander zu. Wenn man während des Lesens nicht zur Batavia recherchiert, spitzen die beiden Kinderschicksale sich auf die Fragen zu, ob ein Kind wie Mayken eine Überlebenschance gehabt haben könnte und ob die Fischer-Clans auf Beacon Island Nachfahren der Überlebenden des Schiffbruchs sein könnten. Die beiden gleichaltrigen, elternlosen Kinder hüten beide einen Hexenstein, einen im Meer abgeschliffenen Stein mit Loch. Da in Romanen von Jess Kidd nichts Übersinnliches unmöglich scheint, habe ich mir vorgestellt, beide könnten mit einem Blick durch ihr Hexenloch tatsächlich ihren 360 Jahre entfernten Altersgenossen wahrnehmen.

Wer sich für Großsegler auf dem Weg nach OstIndien interessiert, wird hier ebenso auf seine Kosten kommen wie Leser, die Anteil an den Schicksalen an Bord nehmen. Da mit Ratten, amputierten Körperteilen, roher Gewalt und Zwangsprostitution nicht gespart wir, rate ich sensiblen Gemütern eher von der Lektüre ab. Mich haben die Abenteuer der beiden Kinder stärker fasziniert als Turtons „Der Tod und das dunkle Meer“, weil Jess Kidd die kindliche Perspektive mit einer hohen Dosis Spökenkiekerei überzeugend verknüpft.