Rezension

Zwischen spannend und schräg... ungewöhnliches Lese-Experiment

Tony & Susan - Austin Wright

Tony & Susan
von Austin Wright

Bewertet mit 3 Sternen

Man muss sich vom Text lösen können...

„Tony & Susan“ ist kein Thriller in herkömmlichem Sinne, sondern eine verzwickte, vielschichtige Geschichte, die auf zwei literarischen Ebenen funktioniert und den Leser als dritte Instanz subtil mit einbezieht.
Und so beginnt es: Susan Morrow, Lehrerin, Hausfrau und Mutter dreier Kinder, erhält per Post das Manuskript zu einem Roman, mit der Bitte das Buch auf seine Qualität zu prüfen. Verfasser ist Susans Ex-Mann Edward, den Susan seit vielen Jahren nicht mehr gesehen und zu dem sie ein angespanntes Verhältnis hat. Nachdem sie die Lektüre einige Zeit vor sich hergeschoben hat, nimmt sie sich das Buch schließlich vor und liest Folgendes:

Tony Hastings, Protagonist in Edwards Roman „Nachttiere“, ist nachts mit seiner Frau Laura und Tochter Helen auf einsamen Landstraßen unterwegs in die Ferien, als ein anderer Wagen die Familie ausbremst, von der Straße drängt und schließlich zum Halten zwingt. Tony sieht sich mitten im Nirgendwo drei Schlägertypen gegenüber und ist verzweifelt um Deeskalation bemüht. Gibt es für die drei einen Ausweg aus dieser höchst beunruhigenden Lage?

Es gibt demnach zwei Handlungsstränge, die sich munter abwechseln und innerhalb derer wir Tony und Susan begleiten, eine Konstellation, die es so nicht wirklich gibt. Denn Susan ist eine Romanfigur, Tony die Romanfigur im Roman der Romanfigur.

Die ersten 100 Seiten des Buches lesen sich atemlos, ja fieberhaft. Genau das, was man von einem Thriller erwartet. Ein Höchstmaß an Spannung bereichert um eine weitere Komponente, die Betrachtung durch Susans Augen, die anfangs nur in kurzen Einschüben erfolgt. Mal bewundert Susan den gekonnten Aufbau des Werkes, mal schweift sie gedanklich kurz zu ihren Kindern ab, um dann schnell wieder zu Tony und seinen Peinigern zurückzukehren. Es drängt Susan ebenso weiterzulesen, wie es den Leser drängt und so sind wir nachts in der Einsamkeit ganz bei Tony und seiner Familie. Wright treibt diesen Teil der Handlung an bis zu einem Punkt, an dem alles aus dem Ruder läuft. 
Das Ganze gleicht einer Wildwasserfahrt. Hoch und immer höher hinaus geht es, um dann unter massiver Ausschüttung sämtlicher Endorphine steil abzufallen.

Nun trudelt unser kleines Wildwasserboot durch ruhigere Gewässer:
Der Mittelteil verlangt dem Leser einiges an Konzentration ab. „Nachttiere“ wechselt mehrfach den Tonfall, ist mal kurzweilig und spannend, zwingt den Leser aber auch immer wieder dazu, ausgiebig Gefühle und Charakterzüge zu betrachten.
Elegisch und metaphernreich werden dazwischen die unglücklichen Beziehungsverflechtungen von Susan, Edward und Arnold (dem jetzigen Mann von Susan) nachgezeichnet, was auch deshalb beschwerlich für den Leser ist, weil die Figuren zwar nicht ganz und gar schlecht sind, aber doch häufig missgünstig, feige, ignorant, zaudernd, selbstgerecht, verletzend und bequem – genau wie wir. Aber wer hört das schon gerne?
Richtig kompliziert wird es, wenn es um die Verknüpfung der vordergründigen Handlung und dem Buch im Buch geht. Man ahnt recht früh, dass hinter Edwards Bitte, Susan möge seinen ersten Roman lesen, möglicherweise eine versteckte Absicht steht. Umso mehr, als wir in Rückbetrachtungen erfahren, dass Susan ihrem Ex-Mann einst jedes schriftstellerische Talent abgesprochen hat. Man hört das schlechte Gewissen Susans buchstäblich an ihr nagen.
Verständlich, dass sie misstrauisch ist und sich immer wieder fragt, warum Edward gerade jetzt in ihr Leben tritt. Sie beginnt nach Fallstricken und Bösartigkeiten in dem Buch zu suchen und befürchtet, das Ganze sei eine ausgeklügelte Racheaktion.

Genau hier klafft die entscheidende Lücke, von der der Leser erwartet, dass sie am Ende logisch geschlossen wird. Denn jede Nähe, die sich zwischen Susan und „Nachttiere“ herstellt, ist entweder von Susan oder von uns Lesern gedacht, ohne Bestätigung der Richtigkeit.
Wundert Euch daher nicht, wenn Ihr nach den letzten Seiten verständnislos das Buch sinken lasst und Euch fragt: What the f****** hell war das?
Es braucht vielleicht ein bisschen Zeit und es könnte ratsam sein noch einmal vor- und zurückzublättern, sich von dem objektiv Geschriebenen zu lösen und die Dinge mit Distanz neu zu erfassen.
Ganz sicher muss man „Tony & Susan“ auch als Experiment zur Funktionsweise und Rezeption von Literatur betrachten. Denn wenn am Ende die Falle zuschnappt, tut sie es – dem Aufbau des Buches folgend – auf mehreren Ebenen und mit einer sehr wahren Botschaft: Manchmal tun wir uns die schlimmsten Dinge selbst an.

Vom Autor, dem Literaturwissenschaftler Austin Wright, wird es leider keine Deutungen mehr zu dem bereits 1993 verfassten Buch geben, da er 2003 im Alter von 80 Jahren verstorben ist.

Fazit: Das Buch ist großartig in seiner Mehrdeutigkeit, schockierend in seinen (anfänglichen) Spannungsmomenten und außergewöhnlich in seinem Raum für Interpretation. Leicht verdaubar ist anders. Ungewöhnlich ist es ganz sicher!
(Wer keine Lust hat das Buch zu lesen, kann sich übrigens bald die – sehr gelobte - Verfilmung mit dem Titel ‚Nocturnal Animals’ ansehen …)

Kommentare

einstein kommentierte am 10. Dezember 2018 um 19:00

eine tolle rezension - du hast es geschafft, das zu schreiben, was ich beim lesen zwar gefühlt habe, aber nicht auf den punkt bringen kann...