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Mal ein etwas Nachdenklicher Text

Hallo Unbekannter

Hallo, Unbekannter. Du wohnst schon länger hier als ich, aber wir sind beinah Nachbarn. Darf ich Du sagen? Immerhin begegnen wir uns ja nicht zum ersten Mal. Wie magst Du heißen? Was hat man zu Dir gesagt, als man Dich herbrachte? 'Schlop jot, Jupp? Good night, Mike? Bonne nuit, Noel? хорошо спать, Димитрий?' - Oder hat man Dich einfach hergelegt, ohne daß Du verstanden hast? Sicherlich liegst Du ja nicht freiwillig hier, und hattest nie geplant hierzubleiben. Obwohl's hier schön ist, ohne Zweifel. Du bist einer von achthundertdreiundsechzig... aber Nummern interessieren Dich sicherlich nicht mehr, eine Nummer warst Du, bevor Du gestorben bist. Jetzt mag ich Dich nicht mehr mit einer Nummer ansprechen, das hast Du nun lange hinter Dir. Dennoch - achthundertdreiundsechzig. Die Zahl hallt nach; eine ganze Menge Leute seid Ihr hier. Hergebracht hat man Euch aus der ganzen Umgegend, und dann vergessen wo Ihr herkamt. Nicht alle haben Euch vergessen, an einigen Eurer Gräber brennt heut noch dann und wann eine Kerze - aber es sind wenige. Was war der Grund dafür, daß Du hier bist? Hast Du auch geglaubt, oder hat man Dir auch erzählt, daß Du für irgendeine Art von Freiheit und Frieden kämpfen sollst? Oder hast Du gemeint, Du hättest keine andre Wahl gehabt und gar nicht drüber nachgedacht? Vielleicht warst Du begeistert von der Idee Deiner Anführer - oder hast Du Dir mit Deinen Kameraden am Tag bevor Du gestorben bist in einer ruhigen Minute eine Zigarette gedreht, geraucht und gefragt 'Was tun wir eigentlich hier?'. Fragen, die ich Dir gern stellen würde. Ich würde gern verstehen, was Ihr hier macht. Was ist mit Deinen Leuten daheim? War da jemand, der vergeblich auf Dich gewartet hat? Jemand, der dann irgendwann resigniert hat und nun nicht mehr glaubt, daß Du noch heimkommst? Eine Ehefrau, oder Deine Eltern? Vielleicht sogar Dein Sohn, der damals stolz war auf seinen uniformierten Papa - und der dann vielleicht irgendwann einmal Deinen Enkeln erzählt hat, daß Uniformen doch nicht ganz so toll sind? Wenn ja, dann freue Dich - dann war Dein Tod hier vielleicht doch nicht ganz sinnlos.
Hast Du eigentlich mitbekommen, was so in der Welt passiert ist seit Du hier liegst? Ich frage mich, was Du darüber denken würdest - und ob Du denselben Wahnsinn, der Dich herbrachte, wiedererkennen würdest. Sicherlich merkst Du, daß die Leute an Dir vorbeigehen und -fahren, ohne Dich eines Blickes zu würdigen. Sie haben vielleicht Angst vor dem, was Du ihnen erzählen könntest; sei ihnen nicht böse. Sie glauben immer noch, daß man für Frieden und Freiheit mit Waffen kämpfen kann - Du könntest ihnen sagen ob sie Recht haben, aber Du ziehst es vor Dich dazu lieber nicht zu äußern. Ich kann mir denken warum. Einer von achthundertdreiundsechzig. Schlaf gut, mein Freund - wir sehn' uns bald.
 

Kommentare

florinda kommentierte am 28. August 2016 um 07:49

Bin heute zufällig drüber gestolpert. Berührt mich. Danke.

Shanna kommentierte am 29. August 2016 um 07:40

Danke für deine Gedanken!

Naibenak kommentierte am 08. September 2016 um 11:08

Das gefällt mir! Danke!

Borgel62 kommentierte am 08. September 2016 um 18:38

Ich sage auch einfach nur Danke.