Rezension

Ärgerlich, oder genial?

Sinkende Sterne -

Sinkende Sterne
von Thomas Hettche

Bewertet mit 4 Sternen

Ein Bergsturz hat das Rhonetal in einen See verwandelt, Dörfer überflutet und den schweizerischen Kanton Wallis fast vom Rest der Welt abgeschnitten. Thomas Hettche nimmt uns mit auf seine Reise zum elterlichen Ferienhaus, das nun im schwer zugänglichen Gebiet liegt. Er wurde von den Behörden nach der Katastrophe aufgefordert, dort vorstellig zu werden. Thomas hat Zeit, hat er doch gerade seinen Job in der Uni verloren. Er hatte nur noch einen Studenten in seinen nicht mehr zeitgemäßen Vorlesungen über Sindbad und Odysseus und sein Sprachduktus sei mit seinen überholten Qualitätsvorstellungen zudem sexzistisch, so der Entlassungsgrund.

Durch Kontrollen und Sperrungen endlich an dem Haus angekommen, erinnert er sich an seine Kindheit in den Bergen, an das Altern und Sterben seiner Eltern und schließlich an Dschamil, seinem letzten Schüler den er noch beim Abschied zu einer Übersetzung von Sindbads Abenteuern überreden versuchte. Das verlassene Dorf beherbergt nur noch seine alte Jugendfreundin Marietta mit ihrer Tochter Serafine.

Beim Termin mit dem Kastlan bei der Fremdenpolizei wird Hettche aufgefordert, das Haus zu räumen. Er soll enteignet werden, man dulde ab sofort nur noch Einheimische. Hettche ist fassungslos, doch bietet der Notar von Werra ihm Hilfe an. Er will für ihn eine Audienz bei der Bischöfin erwirken.

Aber hier fängt es auch an, ziemlich verrückt zu werden. Der Autor versteht es, den Leser mit atemberaubenden Landschaftsbeschreibungen willig zu machen, einzulullen, ja zu betäuben, so dass die Szene im Schloss des Notars sich widerspruchslos im dystopischen Zerfall der Gegenwart einreiht. Die Vorfahren des Schlossherren erscheinen Thomas beim Tanz mit seinem Rechtsbeistand im putzbröckelnden Saal des maroden Gebäudes. Darf hier noch eine Mischung aus Ausnahmezustand (Hettche ist dabei, alles zu verlieren) und Einbildungskraft die Realität bereichern, so ist spätestens beim Treffen mit der Bischöfin (zumindest bei mir) der Ofen auf Sparflamme gegangen. Hier kollidiert der angedeutete Rückfall ins Mittelalter mit modernster Liberalität, nur um es gleich mit alten Ritualen ad absurdum zu führen... etwas, über das Hettche in seinem Arbeitsleben vor Kurzem noch gestolpert ist.

Zahlreiche Erwähnungen literarischer Werke, u.a. die Odyssee und Sindbads Abenteuer aus Tausendundeine Nacht fordern zum Detektivspiel in diesem Roman geradezu heraus. Parallelen wollen gefunden, Szenen, oder sogar das ganze Buch unter diesem Licht gesehen werden. Doch war es mir mit meinem Vorwissen nicht immer möglich, den Text zu analysieren. Ich beschränkte mich auf die bemerkenswerte Gabe Hettches, Worte zu etwas Großartigem zusammenzubauen, dem man gerne folgt, auch wenn das Ziel sich nicht mit meiner Reisebeschreibung deckte.

Es scheint mir ein sehr persönliches Anliegen Hettches gewesen zu sein, dieses Werk zu schreiben. Spürte er doch den Sinkenden Sternen nach, die seiner Meinung nach alle Männer umfasst (S.179) und reklamieren wir hier den heraufbeschworenen Konservatismus. So bleibt mir dann noch die Interpretation, ob es Wunsch, oder Warnung ist, das uns da mit so geistreichen Worten schmackhaft gemacht wurde.

Der Verlag Kiepenheuer und Witsch jedenfalls gestaltete die Sinkenden Sterne als langhaarige Frauengestalten die vor einer Bergkulisse auf dem Umschlag schlafend schweben, klärt mit einer detaillierten Karte des Rhonetals im Vorsatzblatt auf und bettete das Ganze in grobes Leinen, eine Wertschätzung der Literatur, die selten wird, aber wohltuend beeindruckt. Hettche beeindruckt auch, jedesmal, aber diesesmal mit viel Verwirrung.