Rezension

Alles, was ich je getan habe…

Die uns lieben
von Jenna Blum

Bewertet mit 3.5 Sternen

»Anna handelt aus einer urtümlichen Schläue heraus, von der sie nicht wusste, dass sie über sie verfügt, aus einem instinktiven Wissen um ein uraltes Tauschsystem. Sie drängt den Obersturmführer wortlos, ihr zu folgen, während sie die erste Stufe betritt, dann die zweite, und ihr Atem ihr in den Lungen bebt.«

Weimar, 1942. Die 21jährige Anna handelt rein instinktiv. Sie weiß, dass sie gut aussieht und die Männer ihr mit begehrlichen Blicken folgen. Geliebt hat sie aber bislang nur einen, den jüdischen Arzt und Widerständler Max. Max, der verhaftet wurde, als sie gerade von ihm schwanger war. Max, durch den sie die Bäckerin Mathilde Staudt kennenlernte, die den Gefangenen im Lager Buchenwald regelmäßig heimliche Brotlieferungen zukommen ließ und Nachrichten weiterleitete. Die die flüchtige, schwangere Anna aufnahm, ihr eine Freundin und dem Kind eine Tante wurde.

Nun, zwei Jahre später, ist es häufig Anna selbst, die die heimlichen Gänge durchführt. Doch an diesem Tag war Mathilde unterwegs, an diesem Tag wurde Mathilde bei ihrem Tun erwischt und auf der Stelle exekutiert. Von demselben SS-Mann, der nun in der Backstube vor Anna steht und ihren Lügen, nichts von Mathildes Aktivitäten gewusst zu haben, nicht glaubt. Der sicher keinen Moment zögern wird, auch sie und die kleine Trudie, die neben ihr liegt und schläft, zu erschießen. Der einzige Ausweg scheint dieser ihr wohlbekannte Blick zu sein, den er ihr zugeworfen hat…

 

 New Heidelberg, 1996. Aus der kleinen Trudie ist eine Frau geworden, die seit Jahrzehnten nach der Wahrheit sucht. Sie weiß, dass Jack, der so lange er lebte ihr „Dad“ war, nicht ihr richtiger Vater sein konnte, denn ihn hat ihre Mutter erst 1945 kennengelernt und geheiratet. Er hat seiner Tochter nie die Wahrheit über ihren tatsächlichen Vater gesagt und Anna schweigt über restlos alles, was in den Kriegsjahren, in ihrer Zeit in Deutschland, geschehen ist.

»Die Vergangenheit ist tot, und es ist besser, wenn das auch so bleibt.«

Trudie weiß schon seit ihrer Kindheit, dass Anna ein Bild verborgen hält, ein Foto von einer kleinen Familie. Von Anna, Trudie und einem Mann in Uniform, einem SS-Offizier. Ganz offensichtlich war dies ihr Vater – aber wie konnte ihre Mutter nur mit einem solchen Mann zusammenleben? Anna beantwortet keine ihre Fragen, nimmt ihr keinen Zweifel. Und so lebt Trudie seitdem mit einem großen Schamgefühl, fühlt sie sich schuldig, weil sie die Tochter eines Ungeheuers ist.

 

Die Suche nach Antworten, die beständig quälenden Fragen, haben Trudies ganzes Leben bestimmt. Sie ist Professorin für Geschichte geworden, leitet an der Uni ein Seminar mit dem Titel „Die Rolle der Frau in Nazi-Deutschland“.

»Wenn sie ehrlich sein soll, mag Trudy ihren Seminarraum … Dies ist ihr Herrschaftsbereich, in dem sie dreimal in der Woche für fünfzig Minuten alles unter Kontrolle hat. Wo Geschichte dokumentiert und mit Fußnoten versehen wird, immer an den Text gebunden. Wo sie verständlich wird, wenn auch erst im Rückblick.«

 

Engagiert bemüht sie sich, ihren nicht selten sehr kritischen Studierenden eine Sicht jenseits von „alle Deutschen waren Nazis“ zu vermitteln. Für mich als Leserin, die wusste, was zeitgleich in ihrem Kopf vor sich geht, hörten sich ihre Vorträge an wie fortwährende Rechtfertigungsversuche.

»Die meisten von uns nähern sich diesem Zeitabschnitt in dem Gedanken, dass es ein Krieg des absolut Guten gegen das absolut Böse war – Eigenschaften, die selten in ihrer reinen Form auftreten - und das stimmt in gewissem Sinne auch. Aber vergessen Sie nicht, dass Geschichte keine Schwarzweißstudie ist. Menschliches Verhalten setzt sich aus komplexeren Beweggründen zusammen, aus verschiedenen Graustufen.«

 

Es gibt zwei Erzählschienen in diesem Buch. Einmal begleiten wir Anna durch die Kriegsjahre in Deutschland und zum anderen Trudie in der (beinahe) Gegenwart in Amerika. Die Kapitel, die im 2. Weltkrieg spielen, sind erwartungsgemäß bedrückend und häufig auch grausam.

 

Ich denke nicht, dass man Anna dafür verurteilen darf, dass sie die sich ihr bietende Möglichkeit nutzte, ihr Leben und das ihrer Tochter zu retten. Wer will von sich behaupten, dass er in einer vergleichbaren Situation das nicht täte? Welche Mutter würde lieber ihr Kind opfern?

Natürlich hätte sie nach diesem „ersten Mal“ nicht bleiben müssen. Sie hätte sich ihr Baby nehmen können und hätte versuchen können, zu fliehen. Ob sie sehr weit gekommen wäre? Aber vielleicht hätte sie auch Glück gehabt, wer weiß? Ich denke, sie hat mit einem Bleiben die Chancen für sich und die Kleine höher eingeschätzt. Darf man ihr das verübeln? Hätte man selber tatsächlich den Mut gehabt, anders zu reagieren? Ganz ehrlich – ich weiß es nicht.

 

Ich glaube auch nicht, dass Anna es sich leicht machte, indem sie die Geliebte des Obersturmführers wurde. Die vermeintliche Sicherheit, die ihr diese Beziehung brachte, brachte auf der anderen Seite ständige Angst mit sich.

»Was könnte sie getan haben, um seinen Zorn auf sich zu ziehen? War sie nicht enthusiastisch genug im Bett, hat sie die Stiefel des Obersturmführers nicht richtig poliert, hat Trudie ihn verärgert, hat er irgendeinen Beweis dafür bekommen, dass sie den Gefangenen in der Vergangenheit Brot brachte? …  Annas Antennen, die den Obersturmführer umgeben wie Stolperdraht, um jede seiner Launen vorauszuahnen, zittern vor Anstrengung…«

Sie kennt diesen Mann, der sie regelmäßig benutzt, sehr gut. Sie weiß, wozu er fähig ist und sie macht sich keine Illusionen darüber, was sie für ihn darstellt.

»Würde der Obersturmführer ihr einen Fuß auf den Hals stellen und ihr in den Kopf schießen, wenn sie genügend Anstoß erregte? Würde er das am Ende so oder so tun? Anna versucht, sich selbst aus der erhöhten Position des Obersturmführers zu betrachten, hinter seinem Käfig aus Knochen und aus den blassen Fenstern heraus, durch die er die Welt begutachtet. Wenn es um sein eigenes Überleben ginge, um die Notwendigkeit, vor den vorrückenden Armeen alle Beweise zu vernichten, könnte der Obersturmführer seine Zuneigung für Anna womöglich genauso leicht abstellen, wie man einen Wasserhahn zudreht.«

 

Diese Kapitel, die in der Vergangenheit spielen, haben mich besonders fasziniert. Vor allem die darin enthaltenen „Graustufen“, von denen in einem Zitat oben gesprochen wird. Wenn Anna beispielsweise den Sex mit dem Obersturmführer genießt – um sich anschließend dafür fürchterlich zu schämen. Kein Schwarzweiß – und viel zum Nachdenken.

 

In der (beinahe) Gegenwart sucht Trudie wie schon gesagt nach der Wahrheit. Ihre Scham angesichts dessen, was sie durch das Schweigen ihrer Mutter glauben muss, kann ich gut nachvollziehen. Ansonsten kam mir Trudie aber nie sehr nah. Ich denke, dass liegt daran, dass die Gegenwartskapitel leider in meinen Augen sehr klischeebehaftet sind. Sowohl Trudie als auch die eingewanderten Deutschen, mit denen sie im Rahmen ihrer Suche spricht, haben penibel aufgeräumte Wohnungen. An den Wänden hängen Kuckucksuhren und wenn Musik läuft, dann ist es Brahms, Beethoven oder Wagner. Dieses Bild des typischen Deutschen, das ständig übermittelt wird, hat mich doch sehr gestört.

Auch der Schluss fiel für mich ein wenig ab, wirkte im Bemühen, noch irgendwie ein glückliches Ende herbeizuführen, zu konstruiert. Ansonsten liefern aber die Gegenwartskapitel ebenfalls viel Interpretationsspielraum, was Mutter-Tochter-Beziehungen, Vergangenheitsbewältigung und das Leben mit einer Schuld (bzw. vermeintlichen Schuld) angeht.

 

Fazit: Packendes Thema, das sehr zum Nachdenken und Hinterfragen anregt. Streckenweise nur leider mit zu viel Klischees.

 

»Alles, was ich je getan habe, habe ich für dich getan.«