Rezension

Als Außenseiter in der tiefsten kanadischen Provinz

Sein Name war Annabel -

Sein Name war Annabel
von Kathleen Winter

Bewertet mit 4 Sternen

Als 1968 Jacinta und Treadway in einem winzigen Hafenort Labradors ein intergeschlechtliches Kind geboren wird, darf außer Jacintas Freundin Thomasina niemand davon erfahren. Eine Reihe unerfahren wirkender Krankenhausärzte verordnen offenbar einen chirurgischen Eingriff und eine Hormonbehandlung, damit Wayne, besonders auf Wunsch seines Vaters, als Junge aufwachsen kann. Treadway als Trapper und Selbstversorger hat bisher die Rollenerwartungen erfüllt, die zum Überleben an abgelegenem Ort und in unwirtlichem Klima nötig sind. Kleine Gemeinschaften überleben nur, wenn die Menschen vielseitig sind und spontan füreinander einstehen. In Notfällen muss jemand einen Verletzen eben auch bei Glatteis ins Krankenhaus fahren, ob einem das passt oder nicht. Fremd in dieser eingeschworenen Gemeinschaft war schon immer seine Frau Jacinta, die aus der Stadt stammt und sich vermutlich vorher nicht vorgestellt hat, dass sie das auf den Tisch bringen wird, was Treadway auf seiner Fallenstrecke erbeutet.

Treadway ist überzeugt davon, dass er als guter Vater seinem „Sohn“ nur alle eigenen Fertigkeiten beibringen muss, damit Wayne für sein Leben gerüstet ist. Als der heranwachsende Wayne sich offensichtlich immer weiter vom Männerbild seines Vaters entfernt und sich eng seiner Mitschülerin Wally anschließt, die sich aufgrund ihres Körperbaus ebenfalls in eine Außenseiterrolle gedrängt sieht, reagiert Wayne starrsinnig und versucht sein Männerbild unbedingt durchzusetzen. Für den Strukturwandel der Region, den die Bewohner nur durch flexibleres Denken und mehr Toleranz gegenüber Fremden bewältigen werden, scheint Treadway am schlechtesten gerüstet zu sein. Zugleich ist er unfähig zu erkennen, dass Fallenstellen und Selbstversorgung angesichts der hohen Lebenshaltungskosten in der Provinz keine Option für die Zukunft sind. Waynes Generation muss sowieso anders leben als ihre Eltern bisher. Als Wayne in der Pubertät gravierende Probleme aufgrund der bisherigen „Behandlung“ bekommt, sieht er nur die Möglichkeit, seinen Heimatort zu verlassen und in St. Johns ein neues Leben zu beginnen. Seine Eltern reagieren hiflos. Parallel zu den Ereignissen hat Thomasina nach dem Tod von Mann und Kind die Suche nach ihrer neuen Rolle aufgenommen. Auch sie passt nicht mehr in die binären Rollenvorstellungen des Ortes, seit die männliche Rolle in ihrem Haushalt verwaist ist. Wie auch Wally wird Thomasina zur Mentorin auf Waynes schwerem Weg, seine Identität zu entwickeln.

Fazit

Die teils harsche Kritik an diesem Roman (2010 im Original erschienen) verwundert mich, da rückständige Einstellungen und fixe Rollenerwartungen der 80er in einer entlegenen Gegend ja Einstellungen der Figuren sind und keine Werte der Autorin. Da der Roman eine fiktive Patientengeschichte entwickelt, fehlt m. A. zur Trennung von Fakten und Fiktion ein Nachwort mit Informationen zum Wissensstand über Intergeschlechtlichkeit im Jahr 1980, als Wayne in die Pubertät kam. Sinnvoll wäre bei einem 2021 veröffentlichten Buch ebenfalls gewesen, das Indefinitpronomen „man“ infrage zu stellen, denn in Croydon Harbor gab es 1968 kein „man“, sondern „wir, die hier überleben können“ und „ihr Fremden/Leser:innen/Kritiker:innen, die ihr ohne unsere Erfahrung hier nicht überleben könnt“. Auch wenn die Fallgeschichte extrem unglaubwürdig wirkt und Kathleen Winter sich anfangs in der landschaftlichen Schönheit zu verlieren scheint, habe ich den Roman gerade mit Blick auf die Dorfgemeinschaft mit Gewinn gelesen.