Rezension

Barcelona im Aufbruch zur Moderne

Die Tränen der Welt -

Die Tränen der Welt
von Ildefonso Falcones

Bewertet mit 3 Sternen

Während ich es bisher in einige europäische Lieblingsstädte geschafft habe, steht Barcelona noch auf meiner Städte-Travel-Liste und als ich mich in die Lektüre von Falcones neuem Roman vertiefe, erinnere ich mich auch wieder wieso. Im letzten Jahrzehnt mussten wir vor allem mit islamistisch motivierten Terroranschlägen umgehen, doch in meiner Kindheit und Jugend wirkte vor allem der Terror der IRA und ETA nachhaltig auf mich. Von den politischen Hintergründen hatte ich wenig Ahnung, doch die Bilder in den Nachrichten haben einen wirklich starken Eindruck auf mich gemacht und mich lange verunsichert. Offenbar bin ich davon bis heute beeinflusst, denn nach Nordirland hat es mich bisher auch noch nicht gezogen.

Terror und Anarchie sind auch Schlagworte in Falcones Barcelona-Roman, obwohl die Geschichte noch fast vier Jahrzehnte vor der Machtübernahme Francos und dem Beginn des spanischen Bürgerkrieges spielt. Doch wie in vielen Metropolen des jungen 20. Jahrhunderts bringt die Industrialisierung nicht nur Fortschritt für die Menschen, sondern verstärkt die soziale Ungerechtigkeit und das Elend der einfachen Menschen. Zudem bildet sich eine neue Klasse heraus, die der Arbeiter. Sie brechen in Barcelona mit den Konventionen der Kirche und der Oberschicht und organisieren sich in politischen Strömungen und Parteien, die sich schnell radikalisieren und vor Gewalt und Terror nicht zurückschrecken. Die Arbeiter streiken für gerechte Löhne, faire Arbeitsbedingungen, 8-Stunden-Tage, gegen die 7-Tage-Woche. Positionen, die für uns heute selbstverständlich sind. Falcones zieht uns hinein in die Welt der Anarchisten. Am Beispiel der Familie Sala erleben wir den Arbeiterkampf hautnah mit. Der Alltag ist schwer, von Arbeit geprägt und ohne soziale Sicherheiten. Der junge Keramiker Dalmau lebt mit seiner Schwester und Mutter in der dunklen, feuchten Altstadt Barcelonas und hält die Familie durch sein künstlerisches Talent als Angestellter in der Fliesenfabrik eines Großbürgers gut über Wasser. Doch auch die Frauen der Familie leisten ihren Beitrag zum Familieneinkommen. Dalmau ist mehr Künstler als Arbeiter, auf die Streikbarrikaden für den Klassenkampf gehen vor allem seine Schwester und seine Freundin Emma. Überhaupt stellen sich die Arbeiterfrauen mit ihren Kindern häufig an die vorderste Front, weil dann die Guardia Civil weniger hart durchgreift. Doch eines Tages geht der Kampf nicht gut aus und Dalmaus Schwester wird verhaftet. Dies löst eine Kettenreaktion aus, die das Leben der Familie auf den Kopf stellt und einen Keil zwischen die jungen Liebenden treibt.

Heute lieben die vielen Millionen Touristen Barcelona für seine Architektur der Moderne. Antonio Gaudís Sagrada Familia entsteht genau in der Zeit, in der der Roman spielt. So ist der Arbeiterkampf auch mit der neuen Kunst und Architektur eng verwoben. Falcones Titelfigur Dalmau dient als Bindeglied dieser beiden Seiten. Durch ihn lernt der Leser all die großen Baumeister kennen, erlebt die Umgestaltung Barcelonas hautnah mit und kann auch den Kontrast zum katholischen Bürgertum nachfühlen. Emma als weibliche Titelheldin steht mit beiden Beinen fest im Überlebenskampf. Sie wird nicht nur als Arbeiterin ausgebeutet, sondern muss sich tagtäglich vor sexuellen Übergriffen durch die Männer in Acht nehmen. An ihrer Position wird die Scheinheiligkeit innerhalb der Gesellschaft besonders deutlich. Frauen dürfen arbeiten, aber sie verdienen weit weniger als die Männer und nehmen letztlich diesen die Arbeit weg. Oft aber reicht ein Gehalt nicht aus zum Leben. Als junge, unverheiratete Frau ohne Schutz eines Vaters oder Bruders ist Emma Freiwild in den Augen der Männer und kann wenig tun, um ihre Situation aus eigener Kraft zu verbessern. Dalmau hingegen bekommt als Mann die Chance sich zu entwickeln und sich hochzuarbeiten aus seinem Arbeiterstand. Doch er überschätzt sich und fällt umso tiefer.

Es ist ein interessantes Bild Barcelonas, welches Falcones in seinem 700-Seiter entwirft. Doch über die sprachliche Gestaltung, die Ausarbeitung der Charaktere und die Inszenierung der Handlung bin ich enttäuscht. Falcones Erzählstil ist hölzern, ohne Poesie und redundant. Gerade in der ersten Hälfte des Romans habe ich den Eindruck als würde er mit Gewalt die Geschichte in ein Korsett zwingen, um die modernistische Stadtbauentwicklung und den anarchistischen Arbeiterkampf in der Handlung zusammen zu bringen. Die Motivation der Figuren, ihre Handlungen und Ansichten überzeugen und erreichen mich nicht. Es erscheint mir vieles zu konstruiert, es fehlt die Leidenschaft zwischen den Zeilen. Die platte Sexualisierung der Frauen im Buch ist traurig und ärgerlich zugleich. Eigentlich will er zeigen, wie schwer es die Frauen haben und gleichzeitig wird der Eindruck erweckt, als wären die weiblichen Figuren wegen ihrer Reize selbst schuld daran oder nutzen diese aus. Das wirkt schlecht recherchiert und angesichts der aktuellen Metoo-Debatte völlig aus der Zeit gefallen. Ja, Prostitution als Massenphänomen findet seinen Ursprung in den Industriestädten um 1900, ebenso wie Feminismus und ein freierer Umgang mit der eigenen Sexualität. Das hätte man differenziert erzählend in die Handlung einbinden können. So stehe ich diesen typisierten Figuren nur Kopf schüttelnd gegenüber und kann mit ihnen wenig anfangen. Überhaupt ist das Figurenensemble für diesen seitenstarken Roman vergleichsweise übersichtlich. Es begegnen sich immer wieder dieselben Figuren als Handlungstreiber. Dadurch verstärkt sich der Effekt, dass die Charaktere nur beispielhaft sind und die Illusion einer authentischen Geschichte verpufft.