Rezension

Berührend und absolut lesenswert

Vom Ende der Einsamkeit - Benedict Wells

Vom Ende der Einsamkeit
von Benedict Wells

Bewertet mit 5 Sternen

Blut ist dicker als Wasser!

Benedict Wells 'Vom Ende der Einsamkeit' kaufte ich mir aufgrund einer Empfehlung in unserer Tageszeitung:

'Was sind die wirklich wichtigen Dinge im Leben?Die erklommene Karriereleiter-oder genug Zeit mit Herzensmenschen? Wer diesen bittersüßen Roman gelesen hat, kennt die Antwort ganz gewiss. Eine berührende Geschichte von Verlust, Familie und Liebe' (Bonner Generalanzeiger v. 3./4.12.22)

Das sprach mich an, die Themen interessieren mich. Und der Roman nimmt mich von Anfang ein. Ich habe ihn an einem einzigen Nachmittag durchgelesen, 379 Seiten. Protagonisten sind Jules (geb. 1973) und seine Geschwister Liz (geb. 1969) und Marty (geb. 1970), die am 8. Januar 1984 durch einen Autounfall ihre Eltern verlieren, im Internat respektive Heim landen.

Der Roman startet im Jahr 2014 nach einem Motorradunfall Jules und dann ist es erst einmal das Jahr 1980, als die Kinder noch einmal mit ihren Eltern zur Oma väterlicherseits nach Südfrankreich fahren. Der Leser begleitet Jules und seine Geschwister durch die Jahre ihrer Kindheit, Jugend, der Adoleszenz und des Erwachsenseins. Gleich am Anfang stellt Jules sich eine interessante Frage 'Was sorgt dafür, dass ein Leben wird, wie es wird'(11) und im Verlauf des Romans fragt er sich, ob der Mensch über Anteile verfügt, die immer gleich sind, egal welches Leben er lebt. Es geht um Liebe, auch um Geschwisterliebe. Jules glaubt in der Kindheit, den Einzelgänger Marty nicht leiden zu können. 'Ich liebte meine Schwester wie nur irgendetwas, und das änderte sich auch nicht, als sie mich Jahre später im Stich ließ' (19). Es geht um Strömungen und Schicksale, die das Leben für immer verändern, gleich zu Anfang muss das Trio erleben, wie ein Hund im Fluss ertrinkt. Das letzte Weihnachtsfest mit den Eltern. Der Vater geht inzwischen auf die 40 zu. Das Leben ist verändert, der Vater ist verändert.'Vor Jahren hatte er noch fröhlich und zuversichtlich gewirkt, und nun stand diese geduckte Gestalt im Zimmer'(31). Im Internat trifft Jules auf Alva. Beide sind 11 Jahre alt.

'Alva nickte und sah mir lange in die Augen, ungewöhnlich lange, und ich werde nie vergessen, wie wir dabei einen Blick in die innere Welt des anderen werfen konnten (..) Wir blieben jeweils an der Schwelle des anderen stehen und stellten einander keine Fragen' (59).'Alva war meine Ersatzfamilie geworden und mir in vielerlei Hinsicht vertrauter als meine Geschwister oder meine Tante'(79).

Im Laufe des Lebens verlieren Alva und Jules sich aus den Augen, doch sie begegnen sich immer wieder. 1997/1998, als die Geschwister Mitte/Ende Zwanzig sind, sprechen sie über ihre Vergangenheit, was ihr Verhalten mit dem jeweils anderen gemacht hat, ihre Schmerzen, ihre Unfähigkeiten und Hilflosigkeit. 'Ich frage mich, wann die Dinge anfingen, falsch zu laufen, oder ob sie nie richtig liefen, von Anfang an nicht' (132). 'Eine schwierige Kindheit ist wie ein unsichtbarer Feind, dachte ich. Man weiß nie, wann er zuschlagen wird' (136). Liz läuft dem Glück lange davon, hält sich im Leben nie lange auf (…). In diesem Roman ist Blut auf jeden Fall dicker als Wasser! Das Schicksal schlägt immer wieder zu, doch die drei halten zusammen.

Der Roman ist ein Sog, in den ich hineingeriet und überhaupt nicht mehr hinauswollte. Die Sprache ist poetisch, der Schreibstil metaphorisch, der Inhalt philosophisch und ewig gültig. Sehr bewegend, je näher das Ende des Buchs kam, desto öfter musste ich schlucken und auch mal ein Tränchen verdrücken '(…), denn oft lernt man nur im Schmerz, was wirklich zu einem gehört....Es sind die Brüche, in denen man sich erkennt' (276). Traumata können manchmal auch hilfreich sein, die Situation und die Gefühle anderer Traumatisierter besser zu verstehen, so scheint es auch Jules später mit seinem Sohn zu gehen. Bei diesem Buch ist es einmal wirklich so, dass all die positiven, lobenden Kritiken die Wahrheit sprechen. Es ist wunderschön und absolut lebenswert!