Rezension

Dieses Buch trifft ins Mark

Luther - Lehrmeister des Widerstands - Uwe Siemon-Netto

Luther - Lehrmeister des Widerstands
von Uwe Siemon-Netto

Bewertet mit 5 Sternen

Was ist dran an dem weit verbreiteten Vorurteil, Luther habe die Deutschen zur Unterwürfigkeit erzogen und somit Hitler den Weg bereitet? Uwe Siemon-Netto untersucht gründlich die Entstehung dieser Legende und entkräftet sie nach Strich und Faden. Er widerlegt überzeugend "den verleumderischen Vorwurf der Verächter Luthers, er habe die Deutschen zu einem Volk von Duckmäusern erzogen, zu 'Fürstenknechten'. In Wahrheit war Luther der Lehrmeister der Résistance gegen jegliche Tyrannei."

Supersympathisch, dass der Autor uns, um seine lutheranischen Wurzeln zu erklären, seine sächsische Großmutter vorstellt, die zwischen zwei hingebungsvollen Gebeten locker einen Witz reißen konnte ("Wir grinsten und beteten weiter.") Die ganze Omi-Netto-Episode ist überhaupt herrlich. So viel Humor hatte ich bei diesem akademisch anmutenden Titel nun wahrlich nicht erwartet und wurde angenehm überrascht.

Der Autor befasst sich zunächst ausführlich mit der Definition des Wortes Klischee - "Denn anders lässt sich die anhaltende und zumeist bösartige Verleumdung Luthers nich begreifen." Das Klischee, Luther wäre durch Hitler vollendet worden, entstand durch die Vereinnahmung des Reformators durch die "Deutschen Christen". Luthers Zwei-Reiche-Lehre wurde missbräuchlich als Legitimation der friedlichen Koexistenz der Kirchen mit einem totalitären Staat verwendet. Dieses Verbiegen seiner Lehre war der Grund für den späteren Vorwurf der Doppelmoral. "Der Vorwurf, Luther habe die Deutschen zur Duckmäuserei erzogen, übersieht seine unermüdlichen Ermahnungen an alle Christen, bei obrigkeitlichem Unrecht 'das Maul aufzureißen' [...]. Der Vorwurf, er sei ein Kriegshetzer gewesen, übersieht, dass er alle Angriffskriege verurteilte und die Soldaten zum Ungehorsam aufforderte, wenn ihnen Befehle erteilt werden, die gegen Gebote Gottes verstoßen." Luther verurteilte zwar die gewaltsamen Bauernaufstände, da sie einen Missbrauch des Evangeliums darstellten und da er die Anarchie fürchtete, auf die sie zustrebten, aber er nahm auch den Fürsten gegenüber kein Blatt vor den Mund und schimpfte über faule und unnütze Prediger, "die den Fürsten und Herren ihre Laster nicht sagen". Ausführlich weist Siemon-Netto nach, dass Luther nicht nur von jedem Pfarrer, sondern auch von jedem einzelnen Bürger Zivilcourage forderte. Auch der Rassismus-Vorwurf hält einer genaueren Untersuchung nicht stand. Schließlich war es Luther, der uns Christen daran erinnerte, Jesus sei kein Heide, sondern ein Jude gewesen. Die Judenfeindlichkeit, die bei Luther im Alter mit Vehemenz durchbrach, verurteilt der Autor zwar als menschliche Schwäche des großen Reformators, hält sie aber für allein theologisch und nicht rassistisch begründet.

Sehr aufschlussreich finde ich die Erläuterungen zu Luthers Zwei-Reiche-Lehre. Nicht immer bin ich mit dem Autor einer Meinung, was bestimmte politische Spitzzüngigkeiten angeht. Aber da er, getreu seiner eigenen Maxime, stets relativiert, kann ich diese als seine rechtmäßige Meinungsäußerung tolerieren, und sie tun der Qualität des Buches keinen Abbruch.

Als lebendiges Beispiel für die Widerstandsfähigkeit des Protestantismus führt Siemon-Netto unter anderem das "Magdeburger Bekenntnis" an, mit dem sich die Magdeburger Bürger gegen die Deckelung ihrer Religionsfreiheit durch Kaiser Karl V. wehrten.

Und nicht nur Luther wird in diesem bahnbrechenden Werk rehabilitiert: Wir lernen den Lutheraner Carl Goerdeler kennen, diesen wunderbaren Bürgermeister Leipzigs aus dem konservativen Lager, der 1936 mit seinem Rücktritt eindrücklich gegen die Zerstörung des Leipziger Mendelssohn-Denkmals protestierte, der in Folge von Land zu Land reiste, um der Welt die Augen zu öffnen über Hitler und die Nazis und der 1945 von den Nazi-Schergen hingerichtet wurde. Goerdelers Schriften aus jener Zeit faszinieren auf Grund ihrer schonungslosen Deutlichkeit, mit der er Hitler durchschaute: "Der Mann, der die Lehre von der Totalität der Partei immer besessener aufgestellt hat, ... kann ebensowenig einen anderen Gott neben sich dulden, wie er keiner anderen Weltanschauung Raum und Freiheit zur Entwicklung geben kann ... Am Judentum hat ihn am stärksten gereizt und zum Hasse entflammt die Lehre von dem einen Gott, der das ganze Leben des Menschen mit seinen Gesetzen und Geboten durchdringt. Die nächste in der Reihe des Hasses ist die christliche Religion. Demut und Nächstenliebe machen ihn rasend und wild. Das Geheimnis des Lebens macht ihn rasend. [...]" Erschütternd ist, zu lesen, dass gerade bei einflussreichen britischen und amerikanischen Meinungsmachern und Politikern die Vorurteile gegen die Deutschen so tief saßen, dass sie Goerdeler und den sich formierenden deutschen Widerstand nicht ernstnahmen ... und plötzlich befinden wir uns mitten in der alten Debatte über die kollektive Schuld eines Volkes, und wir sehen auf einmal, wie sehr das Klischee von der Verderbtheit des deutschen Volkes durch systematisches Ignorieren des deutschen Widerstands und das Dämonisieren einer ganzen Nation diesem alternativlos aufgedrückt wurde.

Ich finde dieses Werk durchaus für den Laien verständlich. Fachbegriffe wie "anthropozentrisch" werden zwar hin und wieder verwendet, aber immer gleich auch an Ort und Stelle oder per Fußnote im Anhang erklärt. Einzig bei der oft erwähnten "Zwei-Reiche-Lehre" muss sich der noch unkundige Leser etwas gedulden; eine ausführliche Erläuterung erfolgt aber im Laufe der Lektüre. Gelegentliche lateinische oder auch schon mal französische Zitate werden anständigerweise übersetzt. Sprachlich ist die Lektüre oft ein wahrer Genuss. "Das Luther-Klischee ist eine kirchengeschichtliche Maggi-Soße, mit der sich alle erdenklichen religionssoziologischen Gerichte würzen lassen." Ich liebe diese blumigen Bebilderungen! Manchmal möchte man am liebsten jeden Satz zitieren, so sehr trifft der Autor ins Schwarze.

Es ist Uwe Siemon-Netto daran gelegen, "Luthers Stimme wiederzuentdecken, die viel zu lange mit dem Sirup neuprotestantischer Gefühlsduselei zugekleistert war. Diese Stimme ist unverzichtbar angesichts des apokalyptischen Weltkonflikts, den der 'Islamische Staat' (IS) ausgerufen hat und der sowohl mit geistlichen als auch mit weltlichen Waffen ausgetragen werden muss."

Christen, lest dieses Buch! Und wappnet Euch, ein paar böse Worte auszuhalten, die Euch politisch nicht schmecken werden. Mir jedenfalls hat nicht alles geschmeckt, was der Autor ganz am Rande an politischer Meinung kundgetan hat. Lasst Euch dadurch nicht von dieser genialen Schrift abhalten! Sie ist weder zu hochgestochen noch zu abstrakt. Mit ein wenig gutem Willen kann man sich hervorragend hineinlesen und wird mit einer hochspannenden Lektüre belohnt, die an Stichhaltigkeit und Aktualität ihresgleichen sucht.